zur Navigation zum Inhalt

Waldbaden: Achtsamkeit im Wald für das Wohlbefinden

In ihrer Individualität stehen sie zusammen: Bäume. Gemeinsam bilden sie einen Wald oder einen Park, der Sträuchern und Pflanzen, Vögeln, Schmetterlingen, Käfern, Insekten und vielen anderen Arten einen Lebensraum und dem Menschen einen angenehmen Aufenthaltsort bietet. Vom Waldgeschehen geht auch etwas auf die Waldbesucher über. Über diese wohltuende Wirkung hat die Autorin und Kursleiterin für Waldbaden Karin Mühlenberg bereits im WIR-Magazin 2023/2 geschrieben.

© Karin Mühlenberg

Bäume bieten sich gegenseitig Schutz. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie gerade hoch oder schief und krumm wachsen. Auch mit Blessuren wie Löchern im Stamm, abgebrochenen Ästen, Fremdkörpern oder anderen Erscheinungsformen gehören sie dazu. Nur selten stehen Bäume allein – und doch sind sie über ihre Wurzeln weitläufig miteinander und mit anderen Arten verbunden, geben sich Halt und tauschen Nährstoffe und Informationen aus. Die meisten Wurzeln wachsen unterhalb der Erdoberfläche in die Tiefe. andere verästeln sich dort in die Weite. Manchmal sind sie aber auch sichtbar und erinnern an ihre verborgene Mehrheit und an alles, was nicht sichtbar ist.

Das Zusammenspiel von Artenvielfalt und Lebensräumen im Wald hat sich über die Jahrtausende hinweg entwickelt und bewährt, weil es zum gegenseitigen Überleben beiträgt. Das ist wie ein Spiegelbild für das menschliche Sein mit den unterschiedlichsten Ausprägungen und Bedürfnissen, bei dem einerseits jeder mit seinen oder ihren mehr oder weniger inneren und äußeren Verletzungen ein Teil davon ist und andererseits jeder mit dem Sein und Handeln etwas zur Gemeinschaft beiträgt.

Karin Mühlenberg beim Ertasten von bemoosten Wurzeln © Ingolf Gruen

„“Wenn Menschen spüren, was ihnen guttut, sind sie oftmals eher bereit, sich um dessen Schutz zu kümmern.“

Karin Mühlenberg

Waldbaden: Mehr als ein Trend?

In Deutschland gehen die Menschen seit Jahrzehnten im Wald spazieren. Deshalb waren Waldbesucherinnen und Waldbesucher überrascht, als um 2017 herum plötzlich der Begriff „Waldbaden“ aufkam. Was damit gemeint sein könnte, fragen sich seitdem manche. Ein Sonnenbad im Wald oder eine Wasserstelle zum Baden? Auch die Antwort mag überraschen: Waldbaden hat seinen Ursprung in Japan. Der Begriff ist eine verkürzte Übersetzung des Ausdrucks Shinrin Yoku. Den fand das japanische Ministerium für Landwirtschaft, Forsten und Fischerei 1982 für eine Kampagne zum Schutz seiner zahlreichen und beeindruckenden Wälder aufgrund internationaler Erkenntnisse. Ziel war es, die Menschen wieder vermehrt zu Waldbesuchen anzuregen. Da die Verantwortlichen auch um die wohltuenden Einflüsse des Waldes zum Schutz der Gesundheit wussten, drückten sie mit diesem Begriff gleich zwei schützenswerte Potenziale aus: die von Mensch UND Natur. Denn wenn Menschen spüren, was ihnen guttut, sind sie oftmals eher bereit, sich um dessen Schutz zu kümmern. Dass der Wald Menschen schützt, zeigt sich mittlerweile nicht nur im Wohlbefinden, sondern auch in wissenschaftlichen Studien.

Achtsamkeit und Respekt vor der Natur

In das Waldbaden ist die tief verwurzelte japanische Erfahrung der Achtsamkeit und des Respekts vor der Natur eingeflossen, die mit inneren Grundhaltungen wie Wertschätzung und Dankbarkeit einhergeht. Die daraus resultierende Achtsamkeit für den gegenwärtigen Moment – das Spüren des Seins im Hier und Jetzt – und das Loslassen von abwertenden Beurteilungen fördern deutlich und nachweislich das Entspannen. Das wirkt sich auf das gesundheitliche Wohlbefinden aus. Beim Waldbaden kommt es also gar nicht auf das Wissen von Zahlen, Daten, Fakten über den Wald an. Dafür bieten andere Zusammenhänge Raum.

Nach und nach hat sich das Waldbaden weltweit verbreitet. Auch wenn damit in erster Linie kein Bad in der Sonne oder im Waldsee gemeint ist, haben Sonne und Wasser große Bedeutung. Sie sind wichtige Komponenten im umfangreichen Mix der Einflüsse, die beim Waldbaden eine Rolle spielen und durch Übungen zu intensiverem Erleben führen. Das „Baden“ steht hier sinnbildlich für ein „Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes“, bei dem alle Sinne einbezogen werden. Das wirkt sich u.a. auch auf das nicht bewusst steuerbare Nervensystem, den Ruhenerv Parasympathikus, aus.

Die biochemischen Zusammenhänge

Im Wald entsteht die jeweilige Atmosphäre durch das Zusammenwirken weiterer verschiedenster Einflüsse, wie z. B. durch Photosynthese und Staubfilterung gereinigte Luft, die grünen Farbnuancen und anderen Farbtöne, die Baumart und den Abstand der Bäume zueinander, den Bodenbewuchs und die biochemischen Wirkstoffe des Waldes. Mikroben, die das Laub in Erde umwandeln, und sekundäre Pflanzenstoffe, wie Terpene, die der Kommunikation der Bäume untereinander dienen, z. B. dem Austausch über sich nähernde Schädlinge, tragen ebenfalls zur Waldatmosphäre bei. Auch Anionen gehören dazu. Das sind elektrisch negativ geladene Sauerstoffteilchen, die durch Wasserbewegungen wie Regen entstehen, Auch bildet sich durch Regentropfen der typische Regengeruch, Petrichor genannt, wenn diese auf die, von den Pflanzen in den Erdboden abgesonderten, Pflanzenöle und die von Bodenbakterien produzierten erdig reichenden Alkohole, die Geosime, treffen.

Der Lebensraum Wald ist komplex

Die natürlichen Wirkstoffe des Waldes hemmen auch das Wachstum schädlicher Bakterien, Viren und Krebszellen im Körper. Bei jedem Wetter, zu jeder Tages- und Jahreszeit und durch andere Faktoren, wie z.B. die Lage des Standortes, können die waldeigenen Prozesse förderlich auf den Menschen übergehen. Der komplexe Lebensraum Wald wirkt auf die komplexen Vorgänge im Menschen – und auch in Tieren.

© Karin Mühlenberg

Die Sonnenstrahlen geben der Atmosphäre eines Waldes, u.a. aufgrund seiner geographischen Lage und der Baumart, ebenfalls ihre individuelle Note. Sie wirken noch einmal anders im Vergleich zur Stadtlandschaft oder freien Fläche, wenn sie durch das Blätterdach und die Äste scheinen und Schattenwürfe zu kurzfristigen Kunstobjekten gestalten. Das Gehen auf weichem Waldboden, der seinen typischen Geruch verströmt, fühlt sich unterschiedlich zum Gehen auf Steinen an. Geräusche wie etwa die Laute von Rehen oder das Klopfen der Spechte an Baumstämme sind zu hören, wenn sie nicht gerade von fremdartigen Geräuschen übertönt werden. Dies spürt, wer nicht durch den Wald hetzt oder sich von Gedanken, Gesprächen, Handys und anderen äußeren Einflüssen beim Spazierengehen ablenken lässt.

© Karin Mühlenberg

Der Wald im Laufe der Jahreszeiten

Wenn zum Beispiel im Frühling die Natur wieder erwacht, können aufkeimende Blatt- und Blütenknospen und deren Wachstum beobachtet werden. Auch andere Überraschungen lassen sich entdecken, etwa die Gemeinschaft von einem mit Moos überwachsenen Baumstumpf mit verschiedenen Kräutern. Bei näherem Hinsehen fallen die kleinen Details eher auf, bei einem größeren Abstand die Zusammenhänge. Zusätzlich zum Sehsinn nehmen auch die anderen Sinne Riechen, Berühren, Hören und, nur beim Kennen der Pflanze, Schmecken den jeweiligen Fund oder Eindruck wahr. Alles wirkt auf diejenigen ein, die sich darauf einlassen – zu jeder Jahreszeit. Denn der im Laufe des Jahres einhergehende Veränderungs- und Entwicklungsprozess schreitet stetig voran, der bekannte Orte und Gegebenheiten neu erscheinen lässt. So sind weitere faszinierende Dinge zu entdecken, wie etwa im Herbst Beerenfrüchte oder im Winter die mit Reif überzogenen Brombeerblätter.

© Karin Mühlenberg

Warum Langsamkeit beim Waldbaden so wichtig ist

Um die Waldeindrücke aufnehmen und das Verborgene entdecken zu können, bedarf es Ruhe und Zeit, damit alle Sinneskanäle das Gegebene umfassend wahrnehmen können. Das geschieht nicht im Vorbeigehen, wie man es im Alltag eher gewohnt ist. Dadurch können diese in ihrer eigenen Weise auf Körper, Geist und Seele wirken. Langsamkeit ist somit eine weitere wichtige Komponente beim Waldbaden. Durch das Stehenbleiben, Beäugen, Berühren, Drehen, Riechen und ggf. Schmecken legt man beim Waldbaden nur kurze Strecken zurück. Der im Alltag oft spürbare Zeitdruck, der auf Dauer z.B. zu stressbedingten Erkrankungen führt, kann hierbei abgelegt werden und dem Entdecken und Staunen Platz machen – weitere Komponenten des Waldbadens. Pflanzen und andere Organismen machen es deutlich, wie es folgender Satz ausdrückt: „Der Grashalm wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Entwicklung hat seinen eigenen Rhythmus, geschieht aus inneren Bedingungen heraus. Äußerer Druck ist nicht förderlich, sondern kann eher zu Schäden wie dem Abbrechen des Halmes führen, um im Bild des Sprichwortes zu bleiben.

Waldbaden stabilisiert Blutdruck, Nerven und Immunsystem

Mit einem Mal hatte das Wohlbefinden im Wald mit „Waldbaden“ einen Namen erhalten. Mit dem Einlassen auf die dortigen Gegebenheiten, dem Einbeziehen aller Sinne und den langsamen, entdeckenden Bewegungen geht es in seiner Wirkung weit über die eines Spaziergangs hinaus: Nachweislich wirkt der Wald ausgleichend und beruhigend, er senkt auch den Blutdruck. Er wirkt sich gesundheitsfördernd auf das gesamte Herz-Kreislauf- System und darüber hinaus auf das komplexe Immun-, Hormon- und Nervensystem aus: Bei dieser besonderen Form des Waldaufenthaltes ist es nicht nur der Anblick, der die Waldbesucher erfreut, z.B. beim Betrachten von Wuchsformen, Blattformen, Blüten, Moosen, Pilzen, Flechten und anderen Lebewesen. Grundsätzlich wirkt der Wald ausgleichend und beruhigend, auch Bluthochdruck wird gesenkt. Freude und Entspannung empfindet man z.B. beim Berühren der Rinde oder des Bodens mit den Händen oder beim Barfußgehen, aber auch durch andere Einflüsse wie z.B. das ruhige Einatmen der Luft, das Riechen der Walddüfte.

© Karin Mühlenberg

Waldbaden auf Rezept?

Die damals bereits durch koreanische Studien und durch die Kneipp-Kuren in Bad Wörishofen bekannte gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes floss in Japan in die Entstehung der Waldbaden-Kampagne mit ein. Im Grunde genommen wurde Waldbaden somit von Anfang an durch internationale Einflüsse geprägt und mit der japanischen Achtsamkeitstradition ergänzt. Weil es im Laufe der Zeit auch weit über die japanischen Grenzen hinaus überzeugte, entwickelte sich aus der ursprünglichen lokalen Schutzkampagne bald eine weltweite Bewegung, die international als Forest Bathing bezeichnet wird. Auch universitäre Waldforschungen und Waldmedizin entstanden an vielen Orten, um die Wirkungszusammenhänge wissenschaftlich zu erforschen und anzuwenden. In Japan werden sogar ärztliche Rezepte für Waldbaden ausgestellt. In Deutschland bezuschussen inzwischen einige Krankenkassen das Waldbaden als Stressprävention. Auch Kurse, Coachings und Therapien werden zunehmend in der Natur und im Wald angeboten. In Gruppen kann man sich nach einer Suche, beispielsweise zum Thema Resilienz, seine Funde gegenseitig zeigen und sich darüber austauschen. 

Kursteilnehmende bei einer Waldbaden-Übung zeigen ihre Fundstücke © Karin Mühlenberg

Waldbaden für Menschen mit Behinderung

Waldbaden wirkt bei allen. Auch bei Menschen mit Behinderung. Das machten Teilnehmerinnen und Teilnehmer deutlich, die vom P.A.N Zentrum der Fürst Donnersmarck-Stiftung oder aus anderen Zusammenhängen betreut werden und einen Waldspaziergang mit Waldbaden-Übungen erlebten. Es drückte sich nicht nur in einer entspannten Körperhaltung, einem fröhlichen Gesichtsausdruck oder Lachen aus. Eine Teilnehmerin berichtete, wie gut es ihr getan habe, ihre Sorgen zu vergessen. Ein Teilnehmer meinte überzeugt: „Ich bin tiefenentspannt.“

Es wäre auch strukturell wünschenswert, für Menschen mit Gehbeeinträchtigungen oder auf den Rollstuhl angewiesene Menschen, geeignete Wege im Wald zu planen, damit auch sie in den Genuss solcher Waldbaden-Ausflüge kommen können. Denn der meist sandige, weiche oder mit Wurzeln durchsetzte Untergrund ist für das gefahrlose Fortbewegen hinderlich. In Heil- und Kurwäldern sowie in einigen anderen Wäldern wurden bereits entsprechende Wege angelegt, die auch überdachte Gemeinschaftsplätze anbieten, wie z.B. im Nationalpark Hainich in Thüringen (Fotos).

© Karin Mühlenberg

Mit dem Weiterentwickeln solcher Gegebenheiten werden mehr Menschen vom wohltuenden Waldbaden profitieren können.

Karin Mühlenberg ist Kursleiterin für Waldbaden – Achtsamkeit im Wald, ausgebildet bei der Deutschen Akademie für Waldbaden & Gesundheit. Kontakt: mail@akameo.de

Diesen Beitrag und weitere Artikel rund um das Thema Natur und Klima finden Sie in der WIR 2/2023 „Natur erleben und bewahren“ oder hier auf mittendrin.