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Die Klimaforscherin Sasha Kosanic lehnt an einem Ruderboot an der Küste vom Lake District

Klimaforschung und Behinderung: Wir müssen in der Natur sein

Eine brisante Veröffentlichung in der Zeitschrift Science zum Thema „Klimawandel und die Gesundheit von Menschen mit Behinderungen“ sorgte 2019 für Aufsehen. Sasha Kosanic, promovierte Klimaforscherin und Autorin des Artikels, ist seitdem eine gefragte Interviewpartnerin, vor allem wenn es um Klimafoschung und Behinderung geht.

Interview mit der Klimaforscherin Sasha Kosanic

Für das Wir-Magazin hat Sasha Kosanic den mangelnden Klimaschutz, der Menschen mit Behinderungen besonders benachteiligt, beschrieben. Aber auch die sogenannten Ökosystemleistungen (also all die Vorteile, die wir aus der Natur ziehen), die ihrer Meinung nach in Bezug auf Menschen mit Behinderungen zu wenig erforscht sind, stehen im Fokus ihres Interesses, worüber sie im folgenden Interview (aus dem Englischen übersetzt) berichtet.

Sascha, Sie haben vor ein paar Jahren einen aufsehenerregenden Artikel in Science veröffentlicht. Darin haben Sie eindringlich davor gewarnt, dass Menschen mit Behinderungen nicht in die Schutzkonzepte gegen den Klimawandel einbezogen werden. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Nach meiner Promotion an der University of Exeter in Cornwall (UK) habe ich meine Postdoc-Zeit an der Universität Konstanz verbracht. Dort habe ich mich hauptsächlich mit Klimawandel und Biodiversität beschäftigt. Ich interessierte mich dafür, wie sich der Klimawandel auf die biologische Vielfalt auswirkt und wie sich die biologische Vielfalt aufgrund des derzeitigen Klimawandels verändern wird.

Außerdem habe ich mich mit kulturellen Ökosystemleistungen und Ökosystemleistungen im Allgemeinen beschäftigt. Während eines interdisziplinären Projekts in Ramosch, Schweiz, bei dem wir uns mit den Auswirkungen des Klimawandels und der Bedeutung kultureller Ökosystemleistungen befassten, habe ich verstanden, wie wichtig diese sind, da sie unser menschliches Leben und Wohlbefinden beeinflussen. Obwohl ich selbst behindert bin, hatte ich nie darüber nachgedacht.

Klimaänderungen in Madagaskar und ihr Einfluss auf Lebensräume

Bei einem anderen Projekt in Madagaskar stellten wir in den partizipativen Workshops fest, dass es auch in den lokalen und indigenen Gemeinschaften Menschen mit Behinderungen gibt. Madagaskar ist eine Region, in der die Häufigkeit von Wirbelstürmen stark zugenommen hat, was zu Problemen wie der Vermischung von Salzwasser in Trinkwassergebieten und dem Anstieg des Meeresspiegels führt. Die Abholzung der Wälder und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Erbringung bestimmter Ökosystemleistungen verschärfen die Situation.

Wir haben einen Brief in Science veröffentlicht, um darauf aufmerksam zu machen, dass z. B. der IPCC-Bericht (ein regelmäßig veröffentlichter Statusbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen der Vereinten Nationen über den Stand der Klimaforschung, A. d. R.) noch immer sehr wenig über Menschen mit Behinderungen aussagt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Sichtbare Folgen der globalen Erwärmung: Anstieg des Meeresspiegels auf den Marshallinseln  (Luftaufnahme aus dem Dokumentarfilm One Word von 2020)

Werden Menschen mit Behinderungen durch den Klimawandel an den Rand gedrängt?

Wenn wir diese Frage eher aus der Perspektive der Umweltgerechtigkeit betrachten, ergeben sich drei Dimensionen: Verteilungsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit. In Bezug auf die Verteilungsdimension müssen wir verstehen, wie sich der Klimawandel und die Umweltveränderungen auf Menschen mit Behinderungen auswirken. Hierzu gibt es nur sehr wenig Forschung. Das Problem ist vor allem die Verfügbarkeit von Daten, und wir wissen immer noch nicht, wie die verschiedenen Arten von Behinderungen vom Klimawandel betroffen sind. Anerkennungsgerechtigkeit bezieht sich darauf, wessen Wissen und Stimmen gehört werden, und Verfahrensgerechtigkeit darauf, wie und wer Entscheidungen und Maßnahmen trifft.

Um besser auf den Klimawandel vorbereitet zu sein, brauchen wir mehr Forschung und Daten, um zum Beispiel zu wissen, in welchen Gebieten die Gefahr von Überschwemmungen höher ist. Es ist wichtig, auch Menschen mit Behinderungen und Organisationen in die Forschung einzubeziehen, um die Auswirkungen auf sie zu verstehen und geeignete Maßnahmen ergreifen zu können.

Menschen mit Behinderungen dürfen bei Klimakatastrophen nicht vergessen werden.

Bei der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 im Ahrtal starben viele Bewohner eines Pflegeheims, weil sie nicht rechtzeitig evakuiert wurden. Werden Menschen mit Behinderungen in den nationalen Katastrophenplänen nicht ausreichend berücksichtigt?

Schon vor einer Katastrophe müssen wir gut informiert sein und wissen, welche Gebiete besonders gefährdet sind. Wenn extreme Wetterbedingungen auftreten oder drohen, sollten die betroffenen Gemeinden vorher über eine Handy-App oder eine Notfallmeldung informiert werden. Auch die Evakuierungsphase ist wichtig. Die Regionen brauchen spezielle Aktionspläne und geschultes Personal, um Menschen mit Behinderungen sicher aus den betroffenen Gebieten zu evakuieren. Elektrische Rollstühle stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie nicht überall eingesetzt werden können. Es ist wichtig, genaue Pläne zu haben und die Betroffenen entsprechend zu schulen.

Nicht nur in Madagaskar sind Menschen mit Behinderung bei Umweltkatastrophen benachteiligt, sondern auch im Ahrtal in Rheinland-Pfalz. Dort starben im Sommer 2021 zwölf Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in einem Haus der Lebenshilfe im Ahrtal. Das Wasser stieg so schnell, dass für sie jede Hilfe zu spät kam.

In Politik und Wissenschaft müssen wir uns stärker auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen konzentrieren, damit sie bei Klimakatastrophen nicht vergessen werden.

Wie kann die Forschung zu diesem Thema die Politik beeinflussen?

Um die notwendigen Daten zu erheben, brauchen wir mehr Forschungsmittel. Die politischen Gremien müssen über die Bedeutung dieser Daten und die Bewilligung weiterer Forschungsmittel entscheiden. Aus medizinischer Sicht sind die meisten Daten jedoch bereits vorhanden. Deshalb sollten wir nicht warten, bis die Forschung abgeschlossen ist, sondern bereits jetzt politische Maßnahmen ergreifen oder diese entsprechend ändern. Der Klimawandel ist bereits spürbar, also sollten wir schnell handeln. Auch ohne Forschung wissen wir bereits, dass bei Katastrophen Gebärdensprachdolmetscher anwesend sein müssen, um Menschen mit Hörbehinderungen zu unterstützen. Im Falle einer Katastrophe sollten behindertengerechte Unterkünfte mit ausreichenden Betten und Toiletten zur Verfügung stehen. Es ist wichtig zu wissen, welche Geräte, Medikamente oder Gehhilfen die Betroffenen benötigen.

Klimaforschung und Behinderung: Evakuierungspläne kennen keine Barrierefreiheit

Nach einer Katastrophe wird es noch schwieriger, da viele Menschen ihr Zuhause verloren haben. Menschen mit Behinderungen haben oft einen niedrigeren wirtschaftlichen Status und brauchen daher mehr Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Auch Kinder mit Behinderungen haben es schwer, da sie möglicherweise die Schule wechseln müssen, ohne angemessene Unterstützung zu erhalten. Es besteht auch die Gefahr, dass medizinische Unterlagen verloren gehen.

Menschen mit Behinderung sind auch noch selten im Blick der Klimaforschung

Welche Ergebnisse haben Sie bei Ihrer Forschungsarbeit überrascht?

Ich war überrascht, wie wenig Forschung es zu diesem Thema gibt. Normalerweise würde man bei einem Forschungsthema wie diesem Tausende von Arbeiten finden und nur eine begrenzte Anzahl davon untersuchen. Wir haben aber nur 21 wissenschaftliche Arbeiten gefunden, die bereits begutachtet wurden, was eine sehr geringe Zahl ist.

Die Karte zeigt, wo weltweit zu welchem Schwerpunkt beim Klimawandel geforscht wird.

Welche Reaktionen haben Sie nach der Veröffentlichung Ihrer Ergebnisse erhalten?

Meine Kollegen und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, haben mir bestätigt, dass wir mit der Veröffentlichung in Science definitiv eine Lücke in der wissenschaftlichen Literatur gefunden haben. Verschiedene Journalisten nahmen unsere Veröffentlichung positiv auf. Vele haben verstanden, dass etwas fehlte. Aber wie gesagt, innerhalb der IPCC- und IPBES-Berichte (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) hat sich nach vier Jahren nicht viel geändert. Vielleicht denken die Verantwortlichen, dass wir nicht wichtig sind.

Was muss noch getan werden, um Menschen mit Behinderungen in internationale Verträge und Vereinbarungen zum Klimawandel einzubeziehen?

Es ist auf jeden Fall ein guter Schritt, weil er zeigt, dass wir ein wichtiger Teil der Ziele für nachhaltige Entwicklung sind und dass wir ohne sie keine Nachhaltigkeit erreichen können. Es geht also darum, niemanden zurückzulassen. Das müssen die Ziele für nachhaltige Entwicklung sein. Ich weiß, dass die Vereinten Nationen daran arbeiten. Aber wir haben keine Zeit. Wir müssen alle daran arbeiten und die Erfahrungen und das Wissen von Menschen mit Behinderungen nutzen, um eine nachhaltige Zukunft zu erreichen. Es muss so sein wie bei COVID. Dort haben sich Menschen zusammengetan, weil sie ein großes Problem lösen mussten. Beim Klimawandel haben wir die gleiche Dringlichkeit.

Menschen mit Behinderung sind oft von Naturerfahrungen ausgeschlossen.

Was sind Ihre nächsten Forschungsthemen?

Wir arbeiten noch an diesem Papier aus Madagaskar. Es geht um den Klimawandel, die Abstufung und die Beiträge der Natur für den Menschen (NKP), also das weiter gefasste Konzept der Ökosystemleistungen. Insbesondere die nicht-materiellen NKP oder kulturellen Ökosystemleistungen, die meiner Meinung nach sehr wichtig für das menschliche Wohlergehen sind, können wir als immaterieller Nutzen der Natur definieren.

Es ist also sehr schwierig, ihnen einen monetären Wert zuzuordnen. Dazu gehören Dinge wie Erholung, Inspiration, ästhetischer Wert, kulturelle Identität, Verantwortung für die Natur, indigenes und lokales Wissen, traditionelles Wissen, persönliche Identität. Und wir alle wissen, dass dies für das Wohlbefinden sehr wichtig ist. Wenn wir zum Beispiel gerne in einem Park spazieren gehen oder mit einem Freund einen Kaffee in der Natur trinken, wenn wir in Naturgebieten spazieren gehen, die uns an unsere Kindheit erinnern, dann fühlen wir uns glücklicher und wohler, als wenn wir uns auf einer belebten Straße befinden.

Wenn Menschen mit Behinderungen keinen Zugang zur Natur haben, haben sie auch keine Beziehung zu ihr.

Sasha Kosanic

Welche Bedeutung haben die Ökosystemleistungen insbesondere für Menschen mit Behinderungen?

Wir müssen die Zugänglichkeit in verschiedenen Bereichen der Natur sicherstellen, aber auch die Anforderungen der verschiedenen Beiträge der Natur für den Menschen oder der Ökosystemleistungen für Menschen mit Behinderungen besser verstehen. Diese sind sehr wichtig für das menschliche Wohlbefinden. Wir müssen Zugang zur Natur haben, um eine Beziehung zu ihr aufbauen zu können. Stellen Sie sich vor, Sie schicken jemanden mit einer Sinnesbehinderung in die Berge. Vielleicht kann er die Berge nicht sehen, aber er kann sie hören. Er hört den Bach oder den Fluss oder die Vögel. Das ist etwas, das bisher nicht berücksichtigt wurde.

Wenn wir also eine Naturschutzpolitik machen, neigen wir dazu, nur die gesunden Menschen zu berücksichtigen. Wenn Menschen mit Behinderungen keinen Zugang zur Natur haben, haben sie auch keine Beziehung zu ihr.

Könnte die Kombination von Inklusion und Digitalisierung eine gute Lösung sein, um mehr Menschen mit Behinderungen einzubeziehen?

Ja, natürlich. Die Digitalisierung ist für diesen ersten Schritt der Risikobewertung des Klimawandels sehr wichtig. Wenn wir die Technologie nutzen, die uns zur Verfügung steht, können die Menschen vielleicht besser informiert werden. Das müssen wir tun. Beim Konzept der Ökosystemleistungen ist die Digitalisierung ebenfalls wichtig und kann sehr hilfreich sein. Aber um die Natur zu schützen, dürfen wir nicht den Kontakt zu ihr in dieser reinen Form, an die wir gewöhnt sind, verlieren. Das ist sehr wichtig für unser Wohlbefinden.

Liebe Sasha, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

Interview: Sabine Lutz

Der Artikel zum Interview befindet sich im Wir-Magazin Ausgabe 2/2023.