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Dr. med Christian Dohle

DGNR Präsident PD Dr. med. Christian Dohle über Reformen in der Neurorehabilition

Seit Dezember 2022 ist PD Dr. med. Christian Dohle, M. Phil, Leitender Arzt des P.A.N. Zentrums für Post-Akute Neurorehabilitation, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR). Dieses Amt wird er die kommenden drei Jahre ausfüllen. Anlässlich seiner neuen Aufgabe und über anstehende über Reformen in der Neurorehabilitation hat er dem WIR-Magazin ein ausführliches Interview gegeben.

Was ist die Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation und welche Aufgabe hat Sie?

Die Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) ist die Fachgesellschaft für alle Ärzte und Wissenschaftler, die in der neurologischen Rehabilitation aktiv sind. Als Fachgesellschaft wollen wir einerseits die Vernetzung zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Praxis in den unterschiedlichen Rehabilitationskliniken fördern. Andererseits hat die DGNR auch eine politische Aufgabe. Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) haben wir das Recht, uns bei politischen Vorhaben zur Neurorehabilitation mit unserer Expertise einzubringen und eine Stellungnahme abzugeben.

Aktuell befindet sich das Rehabilitationswesen sowie die Eingliederungshilfe in einer umfassenden Umbruchsituation, beispielsweise durch die Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Wohin steuern wir gerade aus Sicht der DGNR?

Ich nehme aktuell die notwendige Bereitschaft wahr, das Gesundheitssystem grundsätzlich zu reformieren. Nun kommt es darauf an, diese Veränderungen mit Verstand anzugehen und gut zu überlegen, was die nächsten Schritte sind. Dafür wirken die Pläne nach meinem Empfinden aktuell etwas überhastet.

Für das WIR-Magazin bereiten sich die Rehabilitandin Petra Schroeter zusammen mit Sebastian Weinert auf das Interview mit Dr. Christian Dohle vor (c) Andi Weiland | Fürst Donnersmarck-Stiftung

Die Reaktion der DGNR auf die Krankenhausreform

Nehmen wir das Beispiel der Krankenhausreform. Der Ansatz ist sicher richtig, aber wir haben im Präsidium der DGNR erfahren, dass es einen extrem engen Zeitplan gibt, der in zwei bis drei Monaten schon abgeschlossen sein soll. Ich befürchte, das wird der historischen Dimension des Projektes nicht gerecht. Ich selbst höre schon seit 20 Jahren, dass das Gesundheitssystem reformiert werden muss, ohne dass wesentliche Änderungen durchgesetzt wurden. Jetzt sollen grundlegende Entscheidungen innerhalb weniger Monate getroffen werden. Da haben wir die Sorge, dass jetzt alles mit heißer Nadel gestrickt wird und wir deswegen nicht das optimale Ergebnis erreichen.

Das Rehabilitationssystem muss grundlegend reformiert werden!

PD Dr. med. Chrisitan Dohle

Wie schätzen Sie denn die geplante Krankenhausreform aus Sicht der DGNR ein?

Aus meiner Sicht sind zwei Aspekte der Reform besonders wichtig. Der eine Aspekt ist die Förderung der Spezialisierung. Nicht jede Klinik soll zukünftig alles tun, sondern sich auf bestimmte Fälle und Fragestellungen konzentrieren. Das ist aus Sicht der neurologischen Rehabilitation sicher sinnvoll. Wir haben in manchen Bereichen beispielsweise in der Frührehabilitation sehr kleine Einheiten mit vielleicht 30 bis 50 Patientinnen und Patienten im Jahr. Das ist aus unserer Sicht zu wenig, da man dann nicht über die gleiche Erfahrung verfügt und auch nicht dieselben Skalierungseffekte erzielen kann wie in größeren Einrichtungen.

Der zweite Aspekt ist die vorgesehene Grundfinanzierung unabhängig von der Belegung. Wenn man – was ja gerade diskutiert wird – von einer Grundfinanzierung in Höhe von 60 Prozent ausgeht, muss ich nicht jedes Bett sofort wieder belegen, weil ich sonst – drastisch ausgedrückt – sofort wieder Stellen abbauen müsste. Das ist aus unserer Sicht in der Neurorehabilitation besonders wichtig, da wir hier ein großes Team finanzieren müssen, das die unterschiedlichen Aspekte der neurologischen Rehabilitation abdeckt.

Die Grundideen finde ich also sehr vernünftig. Aber nun kommt es darauf an, wie man diese konkret umsetzt und nach welchen Kriterien künftig entschieden wird. Werden die Kriterien sehr scharf, bleiben möglicherweise zu wenig Kliniken übrig. Werden sie zu weich, wird es weiterhin Kliniken geben, die nicht die gleiche Qualität anbieten können wie andere. Hier müssen wir einen guten Kompromiss zwischen beiden Anforderungen finden.

Reformen in der Neurorehabilitation: Der Versorgungsauftrag in der Reha muss gesichert sein

Sehen Sie denn in der Neuroreha auch die Gefahr einer falschen Regionalverteilung? Es wird ja gerade stark darüber diskutiert, dass die Reform das Krankenhaussystem in der Fläche zu stark ausdünnen könnte.

Ja und nein. Ich glaube, wir haben tatsächlich an manchen Stellen zu viele Krankenhäuser. Das trifft nach meiner Einschätzung aber insbesondere auf die Ballungsgebiete zu, nicht auf die Flächengebiete. Ich lebe jetzt in Berlin, wo wir eine extrem hohe Anzahl an Krankenhäusern haben, komme aber aus dem Sauerland, wo ich das genaue Gegenteil kennengelernt habe. Gerade hier in der Fläche müssen natürlich auch die Häuser erhalten werden, die einen wichtigen Versorgungsauftrag vor Ort haben. Das geben aber auch das „neue“ Modell der Krankenhausstruktur und das neurologische Phasenmodell her: Vor Ort wird eine Basisrettungsstelle mit Intensivmedizin vorgehalten, die hochspezialisierte Rehabilitation wird dann woanders erbracht, wo dies auch auf einem hohen Niveau möglich ist.

Mit dem neurologischen Phasenmodell sprechen Sie einen wichtigen Aspekt der Neuroreha an. Der Prozess der neurologischen Rehabilitation dauert in der Regel sehr lange und erfordert viel Geduld. Müsste man diese Besonderheit nicht auch in der Struktur des Gesundheitswesens berücksichtigen?

Sie haben völlig Recht, dass die Besonderheiten der neurologischen Rehabilitation in der Finanzierung unserer Angebote berücksichtigt werden müssen. Unsere Herausforderung ist aber, dass die Neuroreha nur ein Element des Sozialsystems ist und wir uns immer auch in die grundlegenden Strukturen einfügen müssen, die eigentlich nicht richtig zu der neurologischen Rehabilitation passen: Beispielsweise entspricht die Frührehabilitation nicht wirklich einer klassischen Krankenhausbehandlung, während die neurologische Rehabilitation der Phase C keine klassische Reha-Behandlung ist. Hier kann die Krankenhausreform Verbesserungen erzielen, wenn wir klare Vorgaben und eine gute Finanzierung erreichen. Dafür muss sich aber das Bewusstsein durchsetzen, dass Rehabilitation und Nachsorge nach einem Schlaganfall sehr wichtig ist und entsprechend gefördert werden muss. Ich sehe hier erste Entwicklungen in diese Richtung. Aber wir sind noch lange nicht da, wo wir eigentlich sein wollen.

Digitale Anwendungen sind sinnvolle Ergänzungen

Welche Rolle kann und wird die Digitalisierung in diesem Prozess spielen?

Ich glaube, Digitalisierung ist in der neurologischen Rehabilitation ein Baustein, um den Arbeits- und Fachkräftemangel der Zukunft zumindest etwas abzufedern. Ein Beispiel: Aus den Leitlinien wissen wir, dass Therapeutinnen und Therapeuten nicht permanent bei den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sein müssen. Wenn das Trainingsprogramm klar ist, können die Betroffenen auch alleine oder notfalls mit Hilfe der Angehörigen trainieren. In solchen Kontexten können digitalisierte Anwendungen eine große Hilfe sein.

Bei Betroffenen mit neurologischen Einschränkungen müssen wir aber auch wieder darauf achten, dass die Systeme für sie nutzbar sind. Ein kleines Handy mit zu kleinen Buttons oder Reglern kann beispielsweise eine Person mit Ataxie (eine neurologisch bedingte Störung der Koordination) nicht bedienen. Das heißt, man kann in der Regel keine Produkte von der Stange nehmen, sondern muss Programme und Angebote ganz gezielt für die Bedürfnisse und Einschränkungen der neurologisch Betroffenen entwickeln.

Die Programme müssen sich auch an die Veränderungen im Rehabilitationsprozess anpassen lassen.

Genau, so wie wir das ja auch in der Therapie tun. Das ist aber auch andersherum ganz spannend, weil wir auf diese Weise gezwungen sind, darüber nachzudenken, wie wir das eigentlich in der „konventionellen“ Therapie machen.

Ein drittmittelfinanziertes Projekt startet

Wie lässt sich denn die Zusammenarbeit zwischen Pflege und Pädagogik beispielsweise in Einrichtungen wie dem P.A.N. Zentrum verbessern?

Ich denke, eine wichtige Aufgabe ist hierbei die Schulung aller Mitarbeitenden in einer Rehabilitationseinrichtung. Wir haben jetzt beispielsweise eine Drittmittelförderung für ein Projekt bekommen, in dessen Rahmen wir die aktuelle Leitlinie zur Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall überarbeiten wollen. Wir wollen sie aber nicht einfach nur aktualisieren, sondern verschiedene Versionen erstellen – für Ärztinnen und Ärzte, für die Therapie, für Betroffene und für Pflege und Pädagogik. Darin wollen wir genau adressieren, was für die einzelnen Gruppen relevant und wichtig ist. Wir erhoffen uns davon eine bessere Akzeptanz der Leitlinien und auch eine bessere Umsetzung in der Praxis.

Welchen Raum sollte denn aus Ihrer Sicht grundsätzlich die Aufklärung und Information Betroffener in der neurologischen Rehabilitation einnehmen?

Das ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Aufgabe. Über lange Zeit hinweg wurde der neurologischen Rehabilitation immer vorgeworfen, sie sei nicht evidenzbasiert. Das stimmt inzwischen nicht mehr. Wir können die Wirksamkeit unserer Maßnahmen in vielen Fällen sehr gut belegen. Aber wir haben das Problem, dass wir dieses Wissen noch nicht gut genug in die Breite bekommen. Die eben angesprochene Leitlinie ist beispielsweise nur bei 50 Prozent der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bekannt – und das hat natürlich Folgen für die Behandlungsqualität.

Verschiedene Leitlinien sind in der Reha erforderlich

Was für professionelle Therapeutinnen und Therapeuten gilt, gilt natürlich auch für Betroffene. Auch wir Ärztinnen und Ärzten müssen daran arbeiten, sie mitzunehmen und zu informieren, damit sie ihre Entscheidungen auch adäquat treffen können. Hier hat uns nach meiner Wahrnehmung die Pandemie übrigens ein bisschen geholfen, da wir zumindest theoretisch erkannt haben, dass die Menschen professionell und zielgruppenspezifisch angesprochen werden müssen. Egal ob es sich um Impfungen, Maskentragen oder Infektionsschutz handelt, es reicht nicht aus, einen wissenschaftlichen Text auf eine Webseite zu stellen. Man muss dieses Wissen in die Breite bringen.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei Ihrer Aufgabe als Präsident der DGNR!

Interview: Petra Schröter (Rehabilitandin im P.A.N. Zentrum), Sebastian Weinert

Der Artikel zum Interview befindet sich im Wir-Magazin Ausgabe 2/2023.