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Zwei Zeichnungen von Phil Hubbe

Teilhabe in der Pandemie – Die Welt steht still

Timo Hermann schreibt für uns über die Erfahrungen mit und in der Corona-Pandemie, die er und seine Frau gemacht haben, und geht der Frage nach: Ist Teilhabe in der Pandemie überhaupt noch möglich?

Die Anfänge

Da sitzen wir nun. Zwischen den Jahren, 2019 waren viele Freunde, Bekannte und Verwandte von uns mit dem dahinscheidenden Jahr unzufrieden und hegten Hoffnungen auf 2020. In den Nachrichten häuften sich Meldungen aus Wuhan. Aber China war ja weit entfernt. In unserem persönlichen Umfeld gab es viele Menschen, die 2019 private Krisen durchlebt haben – 2020 sollte die Wende bringen. 

Wenige Wochen später wurde dann klar: Covid-19 war in Europa angekommen. Anfang März, wir wollten an einer Konferenz auf Sizilien teilnehmen, folgten Kontaktbeschränkungen. Toilettenpapier, Nudeln, Hefe, Desinfektionsmittel und Mundschutzmasken waren kaum noch zu ergattern. Unsere Gesellschaft stand still. Wir spielten mit den Kindern auf dem Hinterhof, der Spielplatz war gesperrt. Unterrichtet wurde digital – mehr schlecht als Recht, nicht ganz zufällig liegt Deutschland im Ranking der Digitalisierung irgendwo hinter Albanien. Videokonferenzen eroberten dessen ungeachtet Geschäftsleben und Familien und lockerten schnöde Besprechungen dann und wann mit Situationskomik auf, wenn die Kinder des Projektleiters in die laufende Konferenz im Homeoffice platzten.

Nachrichten überschlagen sich – Unsicherheiten wachsen

Nachrichten überschlugen sich, Politik und Wissenschaft widersprachen sich gegenseitig. Mit der Zeit wich die Sorge vor dem Virus bei vielen Menschen der Angst vor Kontrollverlust. Und über den Sommer schlich sich vielfach eine gewisse Sorglosigkeit ein. Partys wurden zelebriert, Inlandsreisen waren wieder möglich und kritische Stimmen wurden laut. Obwohl wir im europäischen Vergleich mit einer sehr geringen Infektionsrate davongekommen waren, demonstrierten zahlreiche Menschen gegen die vermeintliche Diktatur – auf angemeldeten und genehmigten, von der Polizei gesicherten Demonstrationen, wohlgemerkt. In der Forschung wird dieser Umstand “Präventionsparadoxon” genannt: Weil die teils harten Maßnahmen ihre Wirkung zeigen, bleibt die Zahl der Erkrankten gering. Das führt dazu, dass viele Menschen den Sinn der Maßnahmen nicht begreifen und gegen die Maßnahmen angehen. Umgekehrt war oft bei denselben Menschen zu Beginn der Pandemie Unmut spürbar, weil ihnen nicht schnell genug harte Maßnahmen ergriffen wurden. Verschiedene Politiker, die heute lautstark ein Ende aller Einschränkungen fordern, haben noch im März die Bundesregierung verbal angegriffen, weil noch keine Einschränkungen verhängt worden waren.

Schon diese Entwicklung hatte bei vielen Vertretern der Risikogruppen für ein ungutes Gefühl gesorgt. Dass nun aber selbst Wissenschaftler sich in medialen Auseinandersetzungen gegenseitig widersprechen, trägt beileibe nicht zur Beruhigung bei. In der „Great Barrington Declaration“ fordern Wissenschaftler, Mediziner und „besorgte Bürger“ eine „sofortige Beendigung aller Einschränkungen“, rufen zur Selbstisolation von Risikogruppen auf und streben eine Durchseuchung der Gesellschaft an. Dem gegenüber stehen über 5.000 Wissenschaftler, die mit dem „John Snow Memorandum“ den Ausführungen aus der Barrington-Erklärung vehement widersprechen und davor warnen, eine unkontrollierte Durchseuchung anzustreben. Die Deutsche Gesellschaft für Virologie hat ebenfalls ein Positionspapier veröffentlicht, das vor diesem Experiment eindringlich warnt. Die Verunsicherung der Bevölkerung ist deutlich spürbar, mehr als im Frühjahr. Viele Menschen sind müde geworden, von täglich neuen Einschränkungen oder Lockerungen mit großen regionalen Unterschieden zu erfahren, und reagieren unterschiedlich darauf, und die Hoffnung auf einen frühen, wirkungsvollen Impfstoff ist dahingeschmolzen. Auch wenn in diesen Tagen die Nachricht von einem Impfstoff die Runde macht, der kurz vor der Zulassung stehen soll: Das Zulassungsverfahren und die Produktion stehen noch bevor.

Unsere Situation

Auch wir selbst sind verunsichert. Sogar in unserer eigenen Familie gibt es unterschiedliche Positionen und Herangehensweisen. Und komplette Selbstisolation ist für uns auch kaum möglich. Zwar arbeitet Adina nun seit März im Homeoffice, tauscht sich in Videokonferenzen und Nachrichtenprogrammen aus. Die Arbeit ist mittlerweile komplett digital organisiert. Aber unsere Einsamkeit ist spürbar. Wir haben Kontakt zu nur sehr wenigen Menschen aus unserem engsten Umfeld, auch wenn wir uns des Risikos bewusst sind.

Nun naht die kalte Jahreszeit und unsere sommerlichen Ausflüge ins Grüne sind kaum mehr möglich. Durch Adinas Muskelerkrankung friert sie sehr schnell und dicke Kleidung schränkt ihre Beweglichkeit ein. Wir werden uns also in den kommenden Monaten einigeln müssen und sehen dem mit gemischten Gefühlen entgegen. Wir bringen unsere Wohnung auf Vordermann und passen sie zunehmend den neuen Gegebenheiten an. Zwischen allen Renovierungsplänen steht die Frage: Wie verbringen wir die Adventszeit? Werden wir auf lieb gewonnene Traditionen wie unsere Weihnachtstage an der Nordsee bei Adinas Familie verzichten müssen? Werden wir die erste Bescherung im Videochat erleben? 

Teilhabe in Pandemie-Zeiten – Geht das?

Teilhabe angesichts der Pandemie dieser Tage ein schwieriges Thema. Zu den Einschränkungen, die gerade Menschen mit Behinderungen alltäglich erleben, kommen nun zahlreiche weitere Beschränkungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hinzu. Es waren viele laute Stimmen von Aktivisten und Verbänden nötig, um dafür zu sorgen, dass in den Krisenplänen auch Menschen mit Behinderungen mitgedacht werden. Denn selbst Nachrichten zur aktuellen Lage waren teils nicht vollständig barrierefrei verfügbar. Es fehlte an Untertiteln, Übersetzungen in Deutsche Gebärdensprache oder auch schlicht barrierefreien Webseiten. Wichtige medizinische Behandlungen wurden verschoben oder ausgesetzt, Kliniken teils umgewidmet und manche Menschen mit Behinderungen, die an Covid-19 erkrankt waren, haben nach der Intensivbehandlung keinen Reha-Platz bekommen. Die Vorgehensweise hat sich mittlerweile verändert, Einschränkungen sind punktueller und Kliniken sind besser vorbereitet. Doch durch die völlig neue Situation und das wechselhafte Verhalten des sprunghaft mutierenden Virus ist es bis heute schwierig, die weitere Entwicklung abzusehen und wirkungsvolle Maßnahmen zu treffen. Das führt zu verständlichem Unmut in der Bevölkerung, weil viele Maßnahmen willkürlich erscheinen und nicht erklärt werden. Ein geschlossenes Vorgehen der Politik wäre leichter hinzunehmen als ständig widersprüchliche Debatten, die öffentlich über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt werden. Es ist gut und richtig, dass auch und gerade in Krisenzeiten ein Diskurs geführt wird, insbesondere bei so drastischen Einschnitten in Freiheits- und Grundrechte. Wenn aber Politiker in der Debatte um Eindämmungsmaßnahmen und Risikogruppen öffentlich die Frage aufwerfen, ob das Recht auf Leben als Grundrecht über allen anderen Rechten stehen sollte, ist eine rote Linie erreicht, die Ethiker alarmieren sollte. Und eben solche Debatten spalten die Gesellschaft und lähmen sie. 

Zukunftspläne – auf Eis gelegt

Neuerdings wird vielerorts die Maskenpflicht auf öffentliche Plätze ausgeweitet. Auf die teilweise hysterisch geführte Diskussion wollen wir nicht weiter eingehen. Doch tatsächlich gibt es gerade innerhalb der Risikogruppen auch Menschen, die unter der Maske Probleme mit ihrer Atmung bekommen. Adina gehört zu diesen Menschen, trägt ihre Maske aber dennoch, um sich und andere zu schützen oder, korrekt ausgedrückt, Risiken zu minimieren. Das führt natürlich auch dazu, dass sie seltener unter Menschen geht, auf den Einkauf verzichtet und zuhause bleibt. Ihre Teilhabe am öffentlichen Leben ist durch die Pandemie deutlich eingeschränkt derzeit. Natürlich ist dieser Umstand auch für uns beide psychisch belastend. Die Ungewissheit, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird, ob und wann es endlich einen wirksamen Impfschutz oder wenigstens gesicherte Behandlungsmethoden für Covid-Patienten geben wird, nagt auch an uns. Wir haben früher gerne geplant, Zukunftspläne geschmiedet und insbesondere Reiseziele recherchiert, gerade in den kalten Monaten. Doch dem kommenden Jahr sehen wir mit großen Zweifeln entgegen. Natürlich haben wir auch nach wie vor Hoffnung auf ein “Leben nach Corona”. Aber zeitlich ist das bislang kaum absehbar. Deshalb planen wir derzeit unsere fernere Zukunft und muggeln uns gemütlich ein, halten uns zunehmend von den Diskussionen über die aktuellen Maßnahmen fern und schwanken weiter zwischen der Akzeptanz für den Status quo und der Sorge um unsere Zukunft. Doch die Pläne, so vage sie auch sein mögen, helfen uns dabei, diese Zeit durchzustehen. Wir gehen diesen Weg nicht allein, gute Freunde begleiten uns und wir sind mit manchen davon noch viel enger zusammengewachsen als vor der Pandemie. So können wir die Zeit nutzen, kürzer zu treten und uns auf andere, auch wichtige Dinge zu besinnen.

Denn auch wenn die Adventszeit möglicherweise ganz anders ausfallen wird, als wir es alle gewohnt sind: Es ist und bleibt die Zeit der Besinnung. Und vielleicht tut es dem einen oder anderen auch ganz gut, einmal in sich zu gehen, sich selbst zu prüfen, und ganz neue Perspektiven zu entdecken. Vielen von uns wird wohl dieser Tage bewusst, wie selbstverständlich wir unsere Freiheit und unser Leben hingenommen haben. Wie sorglos wir einst trotz aller gesellschaftlichen Herausforderungen gelebt haben. Und bei aller Sorge über unsere Gesundheit und den Zustand sollten wir das doch als wichtige Lektion mitnehmen und uns darauf freuen, eines Tages zur Normalität zurückkehren zu können – auch wenn diese Normalität vermutlich anders aussehen wird als vor der Pandemie. 

Über den Autoren

Timo Hermann und seine Frau Adina betreiben gemeinsam das 2013 gegründete Reiseblog “Mobilista.eu” und schildern dort ihre Erlebnisse von Reisen meist aus Europa, aber auch Übersee-Destinationen wie Curacao und Kanada. Adina ist Rollstuhlfahrerin und Head of Design beim SOZIALHELDEN e.V., Timo freiberuflicher Reiseblogger, Fotograf und Berater. Sie suchen sich ständig neue Ziele und skizzieren auf ihrem Blog die Länder, die sie bereisen, die dortigen Menschen, ihre Kultur und vor allem ihre Kulinarik. Und natürlich gibt es einige Details zur Rollstuhlgerechtigkeit der Ziele.

Titelbild: Cartoon von Phil Hubbe