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Symbolfoto: Vorne ein Arzt im Kittel mit Stethoskop. Im Hintergrund sind mehrere Menschen zu erkennen, darunter auch eine Person im Rollstuhl.

Triage-Regelung: Interview mit Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein

Am 28. Dezember, während die meisten deutschen Bürgerinnen und Bürger die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr genossen, hat das Bundesverfassungsgericht ( BVerfG) entschieden, dass der Bundestag unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen für den Fall einer pandemiebedingten Triage treffen soll. Eine Entscheidung mit großer Signalwirkung, weshalb wir mit Beteiligten und Betroffenen in einer kleinen Interview-Reihe zur Triage-Regelung sprechen. Den Auftakt macht der Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein, der den Fall vor dem BVerfG vertreten hat.

„Bedeutung über die Triage-Problematik hinaus“

Was ist Ihre persönliche Einschätzung zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes?

Oliver Tolmein: Ich bin nach meiner langen Zeit als Journalist gerne Jurist geworden, weil hier Handwerk und überprüfbare Argumentationen und Subsumtionen eine wichtige Rolle spielen. Bei Artikeln habe ich immer wieder erlebt, dass es harte Auseinandersetzungen über Inhalte und Schreibweisen gab, in denen Meinungen aufeinanderprallten: zum Beispiel die Behauptung den Text würden „die Leserinnen und Leser“ nicht verstehen oder ein Strang der Geschichte gehe „am Problem vorbei.“ Dass Recht überprüfbar ist und nachvollziehbare Kritierien hat, gibt ihm aber auch nur einen Rahmen, innerhalb dessen sich viel bewegt. Und: auch die Rahmenbedingungen können verändert werden. Insofern habe ich mich über den Beschluss – es ist kein Urteil, weil wir keine mündliche Verhandlung hatten – des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts sehr gefreut und ich habe ihn nicht erwartet. Ich war zwar schon beim Schreiben der Verfassungsbeschwerde sicher, dass es staatlicher Schutzmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen bedarf und dass der Gesetzgeber etwas entscheiden muss. Allerdings habe ich befürchtet, dass das Bundesverfassungsgericht nicht so weit geht, daraus die Konsequenz zu ziehen, dass der Gesetzgeber auch tatsächlich eine Pflicht hat hier tätig zu werden. Dass der erste Senat mit seinem Beschluss dieser Auffassung der Beschwerdeführerinnen sowie -führer und mir beigetreten ist, ist meines Erachtens ein großer Schritt, der Bedeutung über die Triage-Problematik hinaus hat. Wir hatten das Glück, dass mit der Bundesverfassungsrichterin Prof. Susanne Baer eine der wichtigsten Expertinnen der Benachteiligungsverbote und Gleichbehandlungsrechte im Ersten Senat sitzt, die auch die internationale Dimension des Gleichheitsrechts im Blick hat.

Porträtfoto von Oliver Tolmein. In Freizeitkleidung lehnt er lächelnd, zwischen zwei Baumstämmen. Im Hintergrund sind unscharf ein Waldstück, ein Weg und Fußgänger zu erkennen.
Dr. Oliver Tolmein (Foto: Katharina Kost-Tolmein)

Könnten Sie den menschen- bzw. verfassungsrechtlichen Hintergrund des Gesetzes kurz zusammenfassen?

Oliver Tolmein: Üblicherweise richten sich Verfassungsbeschwerden gegen Urteile oder auch gegen Gesetze, also gegen das Handeln von Staat oder Justiz. Unsere Verfassungsbeschwerde rügt dagegen, dass der Gesetzgeber untätig geblieben ist, also etwas gerade nicht getan hat. Nämlich Menschen mit Behinderungen davor zu schützen, dass sie bei Triage-Entscheidungen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden könnten. Bei einer solche Verfassungsbeschwerde, die den seltenen Fall eines echten Unterlassens zum Gegenstand hat, muss man hohe Hürden überwinden. Es geht darum zu zeigen, dass die Beschwerdeführenden gerade durch das Unterlassen unmittelbar selbst in Grundrechten betroffen sind. Sonst ist die Verfassungsbeschwerde schon nicht zulässig. Und es muss gezeigt werden, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist zu handeln. Da der Gesetzgeber hier in der Regel einen weiten Ermessensspielraum hat ist auch das sehr schwer nachzuweisen.

Die „richtige ethische Haltung“ muss in der Triage-Regelung erkennbar sein

Welche Erwartungen haben Sie nun an den Gesetzgeber bzw. das Gesetz?

Oliver Tolmein: Die Aufgabe, die der Gesetzgeber und die die Gesellschaft hat, ist nicht leicht: Verteilungsfragen auf transparente Weise zu klären ist ein heikles Unterfangen, vor allem wenn es um die Verteilung der existentiellen Ressource „Lebenschancen“ geht. Hier hat sich ja, befördert durch die sehr deutliche Position der Ärzteschaf, in den letzten Monaten ein gefährlicher Diskurs etabliert, der auf Effizienz und Ergebnisorientiertheit setzt. Die Auswahl der Patient:innen soll so erfolgen, dass möglichst viele Menschen überleben. Das klingt erstmal einleuchtend und gut. Aber letzten Endes heißt es: wer hat, dem wird gegeben werden. Wenn ein Schiff untergeht heißt die Devise auch nicht: rette sich wer kann. Und auch nicht: die besten Schwimmer, die stärksten Ruderer und der Kapitän zuerst. Die, etwas altbacken und politisch nicht ganz korrekte, zivilisationsgeprägte Regel lautet: Frauen und Kinder zuerst! Kapitänin oder Kapitän verlassen das Boot zuletzt. Das sichert nicht, dass die meisten Menschen gerettet werden, sondern, dass die Bedürftigsten eine Überlebenschance bekommen. Das ist meines Erachtens die richtige ethische Haltung, die im Gesetz erkennbar sein muss. Im Transplantationsgesetz, das ja auch die Verteilung überlebenswichtiger knapper Ressourcen regelt, wird deswegen sowohl auf die Dringlichkeit als auch auf die Erfolgsaussicht verwiesen – sowie auf die Eignung der Patient:innen für eine Transplantation. Dringlichkeit und Erfolgsaussichten sind aber gerade keine Synonyme, sondern beschreiben ein Spannungsverhältnis: oft werden die Patient:innen bei denen eine Transplantation am dringlichsten erscheint die kränkesten sein, bei denen die Erfolgsaussichten im Vergleich zu anderen eher niedrig sind. Jenseits dieser zentralen Frage von Verteilungskriterien, die das Gesetz auch nicht im Detail wird ausbuchstabieren können, kommt es aber auch auf strukturelle Fragen an: gibt es Menschen in der Klinik, die sich mit gehörlosen Menschen in Gebärdensprache verständigen können, sind dort Menschen, die in der Lage sind mit Menschen mit kognitiven oder sprachlichen Beeinträchtigungen zu kommunizieren? Es sollten meines Erachtens auch nicht nur Ärztinnen und Ärzte über die Triageauswahl entscheiden. Es sollte eine Anlaufstelle in der Klinik geben, in der es ein Mindestmaß an Rechtsschutz gibt. Meines Erachtens ist es auch wichtig Menschen aus Behindertengruppen und -organisationen frühzeitig,also im Entwurfsstadium an der Entwicklung eines Gesetzes zu beteilige. Vergessen wir nicht, dass der Gesetzgeber hier eine Schutzpflicht nicht erfüllt hat, es haben aber eben auch nicht Ärztinnen und Ärzte oder allgemeine Bürgerrechtsorganisationen oder Bundestagsabgeordnete hier rechtliche Schritte unternommen, sondern es war eine kleine, aber wache Gruppe von Menschen mit Behinderungen aus und im Umfeld von AbilityWatch. Dort gibt es also eine Expertise zu Behinderung, Diskriminierung und Gesundheitsversorgung, die in dieser Zusammenstellung sonst nirgendwo existiert. Auf diese Spezialkenntnisse von Menschen mit Behinderungen selbst kann man, wenn an „geeignete Vorkehrungen“ zur Verhinderung von Benachteiligungen schaffen will, nicht verzichten.

Mehr über die Diversität unserer Gesellschaft lernen

Wie muss aus Ihrer Sicht das Gesetz gestaltet sein, dass es den Ärztinnen und Ärzten in der Praxis eine rechtlich sichere Orientierung gibt? Wie kann aus Ihrer Sicht die Einhaltung des Gesetzes konkret überwacht werden?

Oliver Tolmein: Für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte ist eine anschauliche, klare Regelung wichtig. Aber genau so wichtig sind für sie – auf mittlere bis längere Sicht – dass sie in der Ausbildung und am Arbeitsplatz mehr über die Diversität unserer Gesellschaft lernen. Dass ihnen Menschen mit Behinderungen nicht nur als Patientinnen und Patienten begegnen, sondern dass sie auch als Ärztinenn und Ärzte, im Krankenhausmanagement oder in Ethikgremien präsent sind, dass also das Gesundheitswesen insgesamt diverser und inklusiver wird. Rechtssicherheit entsteht dadurch, dass man sich vorbereitet, dass Menschen in der Umsetzung solcher Regelungen geschult werden – und auch da: von einem möglichst diversen Kreis von Menschen. Die Überwachung kann nicht und sollte auch nicht autoritär erfolgen, sondern durch Begleitung, durch die Rechtsschutzmöglichkeiten, durch Gesprächsangebote.

Inwiefern könnte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch über den konkreten Fall der Triage in der Pandemiesituation hinausweisen und gibt es aus Ihrer Sicht weitere behindertenpolitische Baustellen und der aktuellen Pandemie?

Oliver Tolmein: Das Bundesverfassungsgericht konzentriert sich stark darauf, das in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG normierte Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen in seinem Wesensgehalt und in seiner Anwendung zu erläutern. Die Norm gewinnt damit zusehends Konturen, möglicherweise auch in anderen Bereichen und zeitlichen Phasen der Gesundheitsversorgung, aber auch jenseits dessen. Die Bestimmung der Schutzpflicht, die Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG enthält, wird die Berufung auf diese Norm zwar auch nicht zu einem Alltagsprogramm machen, erweitert aber auch hier rechtlich und gesellschaftlich den Anwendungsspielraum.

Herr Dr. Tolmein, vielen Dank für das kurze Interview!