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Zu sehen ist das Ruppiner Tor in Gransee, das Teil der historischen Stadtmauer ist.

Reisen in Pandemiezeiten – geht das?

Wie können Menschen mit Behinderung aktuell am besten in den Urlaub gehen? Auf welche Dinge sollten sie am besten achten, welche Gegenden meiden? Wie findet man in einer Zeit, die aus den Fugen geraten scheint, etwas Ruhe und Entspannung? Für mittendrin haben wir Timo Hermann gefragt. Er betreibt mit seiner Frau Adina den Reiseblog Mobilista.eu – eine wichtige Anlaufadresse für barrierefreies Reisen.

„Lockdown“ statt Konferenz auf Sizilien

Wir sitzen gewissermaßen in der Falle. Am 10. März, als unser Flug nach Sizilien zur weltgrößten Reiseblogger-Konferenz abhob, saßen wir nicht im Flieger. Am selben Tag hat Italien einen Lockdown verhängt, viele deutsche Bundesländer folgten wenige Tage darauf. Wir sind Reiseblogger. Timo lebt von diesem Job, und wir beide reisen vor allem aus Leidenschaft, aus Neugier und um unseren Horizont zu erweitern. Und jetzt das Unvorstellbare: eine Pandemie, die uns beiden – und vielen anderen Menschen auch – sehr gefährlich werden kann, und damit Reisen deutlich erschwert.

Eine neue Lage: Pandemie

Am Anfang saßen wir fest, quasi eingesperrt in unserer Friedrichshainer Wohnung. Im Hinterhof haben wir mit Nachbarn begonnen zu gärtnern. Doch der Wunsch nach einem Tapetenwechsel wurde immer größer. Adina bekam just zu dieser Zeit ihr Rollstuhl-Zuggerät, das uns völlig neue Möglichkeiten eröffnete: weitere Strecken, unebeneres Terrain. Nichts wie raus! Doch wohin, um Menschen aus dem Weg zu gehen?

Adina Hermann mit ihrem Zuggerät - Reisen trotz Corona Pandemie
Adina Hermann.

Unser erster Trip führte uns nach Schmöckwitz. Doch die Illusion von leeren Waldwegen am Seddinsee wurde schnell zerschlagen, Abstand halten war schwierig. Wir genossen trotzdem die neue Freiheit, auch wenn sie aufgrund der zahlreichen Menschen teilweise zum Spießrutenlauf wurde. Selbst mal eben am Fenster ein Fischbrötchen zu kaufen wird zur Herausforderung, wenn der Hintermann es nicht schafft, auch nur einen halben Meter Abstand zu halten. Natürlich ohne Mund-Nasen-Maske. Und man will dann ja auch nicht derjenige sein, der ständig andere Menschen ermahnt… so bleibt eine gewisse innere Unruhe, die den Erholungseffekt schmälert.

Risikomanagement bei der Planung von Reisen und Ausflügen

Weitere Anläufe zum Schloss Dammsmühle bei Wandlitz, in botanische Gärten und dergleichen verliefen ähnlich: Wir sind natürlich nicht die einzigen, die es wieder nach draußen zieht. Also begannen wir, für uns Risikomanagement bei der Ausflugsplanung zu betreiben.

Wie sehen die aktuellen Infektionszahlen vor Ort aus, wie viele auswärtige Besucher sind dort zu erwarten? Auf Reisen zu weiter entfernten Zielen verzichten wir derzeit bewusst, weil wir im Falle einer Infektion unsere medizinischen Einrichtungen, bei denen wir bekannt sind, in Reichweite haben wollen. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern bieten jede Menge mögliche Ziele. Wir kramen also in unseren eigenen Erinnerungen an Ausflüge in früheren Zeiten, nutzen unsere guten Ortskenntnisse besonders in Adinas Heimat Mecklenburg, um wenig belebte Orte zu finden, und wälzen Reiseführer aus der Region – zum Beispiel die „52 kleinen und großen Eskapaden in und um Berlin“ aus dem Dumont-Verlag, der neben bekannten Zielen auch weniger bekannte Regionen erschließt. 

Was wir inzwischen immer im Gepäck haben: Maske, Desinfektionsmittel und Fieberthermometer. 

Wir halten uns nach Möglichkeit ausschließlich im Freien auf und meiden geschlossene Räume, die als Corona-Hotspots bekannt sind. 

Wir gehen größeren Menschenansammlungen aus dem Weg und brechen notfalls auch Ausflüge ab, wenn uns unwohl wird, oder ändern spontan die Route. Denn kein Café kann so schön sein, dass wir es genießen könnten, wenn wir darin zwischen Menschenmassen sitzen und ständig die Bedrohung im Hinterkopf verspüren. Auch wenn uns allen klar sein dürfte, dass es das besagte Café nach der Pandemie möglicherweise nicht mehr geben wird.

Dazu kommt, dass wir die Top-Reiseziele wie die Ostseeküste von vorn herein ausschließen. Wir haben unseren Wohnwagen in der Mecklenburgischen Seenplatte stehen, und seit den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen fahren wir die Strecke dorthin, für die wir normalerweise zwei Stunden mit dem Auto brauchen, in gigantischen Kolonnen und benötigen dafür teilweise bis zu vier Stunden. Die Bilder von völlig überfüllten Stränden sind auch hierzulande gegenwärtig, und bei allem Verständnis für den Wunsch nach Reisen und Freiheit muss jedem bewusst sein, dass eine zweite Infektionswelle droht. Die wirtschaftlichen Folgen könnten noch viel dramatischer sein als die des ersten Lockdowns. 

Die positiven Aspekte

Für uns gilt daher, uns zu mäßigen. Wir entdecken dabei, wie viele schöne Orte es in unserer direkten Umgebung gibt, die wir früher nie wahrgenommen haben. Der Blick für die kleine und versteckte Idylle wird geschärft. So hat die Pandemie auch ihre positiven Seiten. Denn der Trend zum innerdeutschen Tourismus, der in den vergangenen Jahren schon deutlich angestiegen ist, bleibt ungebrochen. Kein Wunder, sind doch sich teils täglich ändernde Vorschriften im Ausland und Flugreisen derzeit für die meisten Menschen keine angenehme Vorstellung-kaum jemand möchte riskieren, im Ausland erst einmal für Wochen in Quarantäne zu landen.

Glücklicherweise hat Deutschland eine riesige landschaftliche und kulturelle Vielfalt zu bieten, die kaum jemandem wirklich bewusst ist. Nur wenige Deutsche waren bislang in allen 16 Bundesländern. Wenn wir alle anfangen, uns mehr auf neue Wege einzulassen und nicht nur die Top 10-Reiseziele aus den einschlägigen Reiseführern zu bereisen, könnte die lokale Wirtschaft davon auch deutlich profitieren. Zugegeben, das Strandbad Wanne-Eickel ist sicher wie viele andere Ziele jetzt nicht gerade eine Wunschdestination. Aber wer sich einmal die Mühe macht, alltägliche Wege zu verlassen, entdeckt die eine oder andere Perle und kann Vorurteile abbauen. 

Neue Wege und Perspektiven

Der Ort Gransee ist ein Beispiel, das jedem bekannt vorkommen dürfte, der einmal auf der B96 in Richtung Ostsee gefahren gefahren ist: der Ortsteil entlang der B96 ist ebenso wenig einladend wie die Gegend um den Bahnhof herum. Wer also – egal ob mit der Bahn oder mit dem Auto – nur durch Gransee hindurchfährt, wird den Ort selten als besonders sehenswert empfinden – vorsichtig ausgedrückt. Wer aber am Kreisverkehr irgendwann einmal den Wegweiser zum „historischen Stadtkern“ entdeckt und ihm folgt, wird nach zwei Kilometern sein blaues Wunder erleben. Sofort lernt man Gransee von einer völlig anderen Seite kennen: Am Ruppiner Tor, einem Teil der Stadtmauer aus dem 18. Jahrhundert, erschließt sich die geometrisch errichtete Altstadt als wahres Kleinod! Selbst uns, die nun wirklich neugierig sind und Dingen gerne auf den Grund gehen, war bis zu diesem Ausflug nicht bewusst, wie sehenswert der Ort tatsächlich ist.

Natürlich gibt es Einschränkungen, die manchen Ausflug trüben. Ansammlungen von Menschen, oft ausgebuchte oder geschlossene Restaurants und die eine oder andere Enttäuschung auf Ausflügen gehören auch dazu. Aber noch haben wir bei jedem spontanen Abstecher irgendetwas Sehenswertes entdeckt, ganz ohne das Risiko, uns zu infizieren. Und es besteht auch kein Grund zur Eile. Denn schließlich wird es ja auch noch eine Zeit nach der Pandemie geben – irgendwann. Bis dahin hat sich möglicherweise ein Teil der Welt ein wenig von den Ausmaßen des Overtourism erholt. Vielleicht schaffen wir es dann auch, unsere Welt mit anderen Augen zu sehen. Immerhin zeigen sich in Venedig wieder klare Kanäle, Fische und sogar Delfine in der einst stinkenden Brühe!

Die folgende Checkliste soll bei der Abwägung unterstützen und einen Denkanstoß bieten. Sie hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und spiegelt nur unsere persönlichen Abwägungen wider. 

10 Punkte-Checkliste zum individuellen Risikomanagement

  1. Wie hoch schätze ich mein persönliches Gesundheitsrisiko ein? Wie viel Risiko bin ich bereit, einzugehen? (Kontakt mit Dritten ist IMMER ein gewisses Risiko!)
  2. Wie groß ist der Drang, jetzt zu reisen?
  3. Gefährde ich Menschen aus meinem persönlichen Umfeld durch eine Reise?
  4. Gibt es am gewünschten Ziel eine adäquate medizinische Versorgung für den Fall einer Infektion?
  5. Bin ich bereit, eine eventuelle Quarantäne in Kauf zu nehmen?
  6. Mit wie vielen anderen Besuchern rechne ich am gewünschten Ort?  Befinde ich mich möglicherweise in der Nähe eines bereits bekannten Hotspots?
  7. Bin ich bereit, neue Ziele zu erkunden, auch auf die Gefahr hin, dass meine Erwartungen nicht erfüllt werden hinsichtlich Attraktionen etc.?
  8. Gibt es genügend Möglichkeiten, etwas im Freien zu erleben, oder sind die meisten Attraktionen in geschlossenen Räumen mit erhöhtem Infektionspotential? 
  9. Ist mir bewusst, dass die Sorge vor einer Infektion möglicherweise den Erholungseffekt reduziert und eine Reise auch eher anstrengend sein kann?
  10. Bin ich bereit, abzubrechen, wenn ich feststelle, dass ich das Risiko falsch eingeschätzt habe?

Wie auch immer Sie sich entscheiden: Bleiben Sie positiv, entdecken Sie ruhige Gegenden und bleiben Sie gesund!

Über die Autoren

Adina und Timo Hermann betreiben gemeinsam das 2013 gegründete Reiseblog “Mobilista.eu” und schildern dort ihre Erlebnisse von Reisen meist aus Europa, aber auch Übersee-Destinationen wie Curacao und Kanada. Adina ist Rollstuhlfahrerin und Head of Design beim SOZIALHELDEN e.V., Timo freiberuflicher Reiseblogger, Fotograf und Berater. Sie suchen sich ständig neue Ziele und skizzieren auf ihrem Blog die Länder, die sie bereisen, die dortigen Menschen, ihre Kultur und vor allem ihre Kulinarik. Und natürlich gibt es einige Details zur Rollstuhlgerechtigkeit der Ziele.

Titelbild: „Gransee in Brandenburg. Das Ruppiner Tor ist Teil der Stadtmauer und steht unter Denkmalschutz.“ By Clemensfranz – Own work, CC BY-SA 4.0, Link