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Symbolfoto: Bild von der Demo zum Europäischen Protesttag für die Rechte von menschen mit Behinderung im Mai 2016. Der Demozug im Vordergrund, im Hintergrund der Bundestag.

Triage-Beschluss ein voller Erfolg: Interview mit Anne Gersdorff

Die Aktivistin, Sozialarbeiterin und Inklusionsberaterin Anne Gersdorff gehörte zu dem Kreis, der die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat, die zum Triage-Beschluss geführt hat. Dieses Mal haben wir mit Anne Gersdorff gerdet. Es ging um gesellschaftliche Aspekte, die Bedeutung für Betroffene und die Wirkkraft hinsichtlich anderer Bereiche, in denen Menschen mit Behinderung noch Diskriminierung erfahren.
In den vergangen Tagen haben wir bereits mit Dr. Oliver Tolmein über die rechtliche Lage und dem Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe über die Gesetzgebung seitens der Politik gesprochen.

Triage-Beschluss: „Ein großes Stück Geschichte geschrieben“

Wie lautet Ihre persönliche Einschätzung zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes?

Anne Gersdorff: Meine Mitstreiter*innen und ich freuen uns sehr über den Beschluss. Es ist fast genau das eingetreten, was wir auch gefordert haben, dass die Bundesregierung jetzt zum Schutz von Menschen mit Behinderung handeln muss. Dass diese Entscheidung im Falle einer Triage nicht alleine in der Hand von Medizinerinnen und Medizinern liegen kann und darf. Insofern sehen wir das schon als vollen Erfolg an. Jetzt muss die Bundesregierung halt nur tätig werden, und dass nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes eben unverzüglich. Aber an und für sich ist es ein großer, richtungsweisender Erfolg. Es ist schon geschichtsträchtig, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Deutlichkeit die Diskriminierung aufgrund eines Nicht-Handelns anerkennt und den Schutz von Menschen mit Behinderungen fordert.

Anne Gersdorff sitzt vor einem Notebook in ihrem Büro. Eine Kamera filmt sie ab.
Anne Gersdorff von JOBinklusive im Online-Gespräch mit einem Leistungsanbieter ++ am 25.11.2020 in Berlin (Berlin). (Foto: Andi Weiland I Gesellschaftsbilder.de)

Wie bewerten Sie den Beschluss angesichts der vergangenen knapp zwei Jahre Coronapolitik?

Anne Gersdorff: In der gesamten Pandemie wurden Menschen mit Behinderung, zumindest diejenigen die nicht in Einrichtungen leben, eigentlich konsequent vergessen. Wenn es um Menschen mit Behinderungen ging, dann als Risikogruppe. Aber eben auch als Risiko für die Mehrheitsgesellschaft, weil sie sozusagen deren Freiheit einschränkt. Insofern ist es sehr gut, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Deutlichkeit gesagt hat: „Hey, Menschen mit Behinderung müssen vor Diskriminierung geschützt werden.“ In dem konkreten Fall vor der Triage. Aber Herr Tolmein der Anwalt, der uns vertreten hat, der hat auch ganz klar gesagt, dass dieser Beschluss auch bei anderen, zukünftigen Verfahren als Argument mit herangeführt werden kann. Und ich habe von einer Juristin gehört, dass es seit 50 Jahren keine Verfassungsbeschwerde mehr gab, die sozusagen wegen Untätigkeit der Bundesregierung durchgekommen ist. Wir haben ein großes Stück Geschichte geschrieben, das auf jeden Fall in die Zukunft hineinstrahlen wird.

Also kann dieser Beschluss auch angeführt werden, um Diskriminierung auch in anderen Bereichen zu verhindern oder um Druck bei der Umsetzung von Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention zu machen?

Anne Gersdorff: Ganz genau, da hat das Bundesverfassungsgericht auch ganz klar gesagt, dass es mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht konform ist. Also die mögliche Triage nicht klar zu regeln beziehungsweise Menschen mit Behinderung nicht besonders zu schützen.

„Triage ist immer kacke“

Kommen wir nochmal zur Triage selbst: Am Ende wird es noch immer eine Momententscheidung der Ärztinnen und Ärzte sein. Wie kann sich Ihrer Meinung nach generell verhindern lassen, dass Gruppen von Patientinnen und Patienten gegeneinander ausgespielt werden, beziehungsweise, dass Benachteiligungen stattfinden?

Anne Gersdorff: Also eine Triage ist immer kacke. Und ich möchte nie in der Situation von Medizinerinnen und Medizinern stecken, die so was entscheiden müssen. Das muss ich auch ganz klar sagen. Aber wichtig zu bedenken ist, dass Ärztinnen und Ärzte eher ein medizinisches Modell von Behinderung haben. Sie sehen also eher die körperlichen Defizite, die Krankheiten, die dahinterstehen. Diesen einseitigen Blick kann man, glaube ich, mit viel Wissen und Schulungen auch erweitern. Aber er lässt sich vielleicht auch bereits mit einem Zweiaugenprinzip hinterfragen. Aber ich bin ehrlich gesagt insgesamt auch etwas zwiegespalten, was das anbetrifft. Ich glaube, die Regelungen beziehungsweise die Debatte darüber müssen wir als Gesellschaft führen. Und da müssen Menschen mit Behinderungen sichtbar und deutlich beteiligt werden. Wir müssen da ganz klar mitreden, aber nicht alleine die Lösung parat haben. Vielmehr muss es jetzt eine gesellschaftliche Debatte geben und wir müssen diese Probleme gemeinsam lösen. Wie das am Ende aussehen kann und es für die gesamte Gesellschaft fair gestaltet werden kann, möchte ich als Einzelperson, ehrlich gesagt, gar nicht entscheiden. Aber ich möchte die Gewissheit haben, dass ich und andere Menschen mit Behinderungen bei einem schweren Corona-Verlauf genauso gute Behandlung bekommen wie die Leserinnen und Leser am Bildschirm und alle anderen Menschen ohne Behinderungen eben auch.

Reicht dazu denn die Gesetzgebung am Ende allein aus? Oder gibt es ergänzende Maßnahmen, die ergriffen werden können? Haben Sie Ideen oder Vorschläge?

Anne Gersdorff: Zunächst ist ja auch die Frage, ob es ein Gesetz geben wird oder „nur“ eine Verordnung. So ein Gesetzgebungsverfahren dauert einfach sehr lange. Und angesichts von Omikron und dem unklaren weiteren Verlauf der Pandemie, brauchen wir eine schnellere Entscheidung. Insofern muss es jetzt kurzfristige, unmittelbare Lösungen geben. Aber langfristig ist es auch besonders wichtig zu sagen: hey, wir müssen die Schulung von medizinischem Personal in dieser Hinsicht ganz anders gestalten. Wir müssen insgesamt vielleicht viel sozialmedizinischer denken. Es braucht langfristig ganz andere Rahmenbedingungen. Da müssen wir als Gesellschaft beispielsweise auch die Pflege ganz anders handhaben. Und wir müssen grundsätzlich immer die Perspektive von Menschen mit Behinderungen einbeziehen. Es muss die ganze Debatte darum, was ist lebenswertes oder unlebenswertes Leben, einfach noch mal gesellschaftlicher weitergeführt und hinterfragt werden.

Vermutlich wird Corona auch nicht die letzte Pandemie bleiben – insofern ist es also nachhaltig. Inwiefern könnte der Beschluss aber über den konkreten Fall der Triage in der Pandemiesituation hinausweisen und gibt es aus Ihrer Sicht weitere behindertenpolitische Baustellen in der aktuellen Pandemie?

Anne Gersdorff: Also das sind ja zwei Sachen. Er wirkt auf jeden Fall insofern darüber hinaus, als dass sich eins der höchsten Organe unseres Staates quasi schützend vor Menschen mit Behinderung gestellt hat und deutlich sagt: „Menschen mit Behinderung werden in Deutschland nicht ausreichend vor Diskriminierung geschützt.“ Insofern kann man das auch für weitere Klagen und Beschwerden , die gefällt werden müssen, heranziehen. Das kann, meiner Meinung, nach auch ganz viel Empowerment für Menschen mit Behinderungen bieten. Denn sonst führen wir eigentlich immer nur Abwehrkämpfe. Und jetzt hat sich jemand ganz klar an unsere Seite gestellt. Das zeigt schon, dass Menschen mit Behinderung gesehen werden. Wie groß die Auswirkungen sind zeigt ja auch, dass es seit Jahrzehnten keinen vergleichbaren Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gab. Das ist sehr gut und wird auch in die Zukunft hinein Wirkung zeigen, für sämtliche Dinge, die für Menschen mit Behinderung wichtig sind und wichtig werden.

Gleichzeitig zeigt die Pandemie ganz viele Schwachstellen in unserem System. Zum Beispiel, dass die Pflege so unglaublich schlecht aufgestellt ist. Dass unser Gesundheitssystem nicht mehr gut funktioniert. Sie zeigt aber auch, dass viele Vorurteile und überwiegend medizinische Sichtweisen auf Behinderungen existieren. Dass wir Personen in Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen eben potenziell eher sterben lassen würden als andere Menschen. Bei vielen dieser Punkte gilt es zu schauen, wie wir uns da einfach besser aufstellen können. Dass die Pflege ein klar anerkanntes und entsprechend wertgeschätztes Berufsfeld ist, dass allen Bewusst wird, dass die Arbeit in Krankenhäusern ein elementarer Baustein unserer Gesellschaft ist. Dass wir das Bewusstsein stärken, dass wir diese Felder alle brauchen und zu schätzen lernen, dass wir halt im Notfall ins Krankenhaus können und dort medizinisch versorgt werden. Und ich muss schon sagen, dass es mich damals sehr erschüttert hat zu wissen: okay, wenn ich jetzt ins Krankenhaus käme, hätte ich per se schlechtere Chancen, und das steht hier schwarz auf weiß, als irgendwie jemand anderes. Und das zu verändern, ist einfach super wichtig.

Schöne Schlusswort – ich denke auch, dass die angesprochenen Probleme des Gesundheissystems klar über die behinderten-politischen Aspekte hinausgehen und als gesamtgesellschaftliche Probleme behandelt werden müssen.

Anne Gersdorff: Genau, diese Probleme zeigen sich jetzt ganz deutlich, obwohl wir ja eigentlich schon seit Jahren wissen, dass es einfach so schwierig ist und es Probleme gibt. Das zeigt sich dann in so Extremsituationen, wie einer Pandemie noch mal viel deutlicher und wir müssen als Gesellschaft jetzt auch die Konsequenzen draus ziehen.

Liebe Frau Gersdorff, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch und Ihre Standpunkte!

Titelbild: Symbolfoto – Europäischer Protesttag in Berlin 2016 (Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de)