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Inklusion an Schulen: Eine Schulklasse, vorne links am Tisch sitzt ein Junge im Rollstuhl.

Gedaken zu Barrierefreiheit und Inklusion an Schulen

Unser Gastautor Timo Hermann hat für uns seine Gedanken zum Status Quo der Barrierefreiheit und Inklusion an Schulen aufgeschrieben. Was sind Grundvoraussetzungen und wo liegen Herausforderungen?

Inklusion an Schulen: Frühe Gedanken zur Schulwahl

Nun ist es soweit: Das Kind ist da. Und auch, wenn unsere kleine Maus gerade erst ihren ersten Geburtstag mit uns feiern durfte und begeistert mit Geschenkpapier statt den darin verborgenen Geschenken gespielt hat, gehen unsere Gedanken bereits viel weiter. Die Suche nach einem Kita-Platz steht bevor, und irgendwann in ferner Zukunft soll das Kind auch die Schule besuchen. Die Schulwahl ist jetzt zwar noch weit entfernt. Aber den meisten Eltern dürfte es so gehen, dass man gedanklich manchmal etwas vorauseilt und sich die Zukunft ausmalt – oder zumindest Informationen darüber einholt.

Barrierefreiheit als Grundvoraussetzung

Unser Kind ist, soweit wir und Fachleute es beurteilen können, bislang völlig gesund. Theoretisch wären wir damit in der Schulauswahl völlig frei. Aber was ist eigentlich mit Elternabenden? Die für uns zuständige Grundschule wäre definitiv nicht rollstuhlgerecht. Kein Stück. Die kenne ich nämlich ziemlich gut, habe ich doch mein Patenkind schon zig Mal dort abgeholt. Ebenerdig ist dort der Schulhof, sonst nichts. Selbst zur Turnhalle gibt es noch eine Stufe. Die wäre zwar überwindbar, aber abends gehören die Schulsporthallen im Bezirk den Sportvereinen. Also scheidet die Sporthalle dort als Ort für die bei vielen Eltern gefürchteten Elternabende in Anwesenheit von RollstuhlfahrerInnen wohl aus. Und reicht die Tatsache, dass ein Elternteil im Rollstuhl sitzt, aus, um eine Genehmigung für die Einschulung an einer anderen Schule zu erhalten? Wo wäre diese Schule überhaupt? Kann mir das irgendjemand sagen? Die Infoseiten des Berliner Senats können es jedenfalls nicht. Oder sie sind nicht auffindbar. 

Natürlich sind das Überlegungen die jetzt noch lange nicht akut sind. Dennoch sind sie bereits jetzt im Hinterkopf, insbesondere, wenn wir Nachrichten zur schulischen Inklusion lesen. Wer glaubt, mit einer schnellen Suchmaschinen-Abfrage die gesuchten Antworten zu finden, irrt. Im Rahmen der Recherchen auch für diesen Artikel habe ich versucht, herauszufinden, wie viele Berliner Schulen denn nun rollstuhlgerecht sind. Ich erhielt zwar einige Antworten. Doch diese fielen extrem unterschiedlich aus. Ein Abgeordneter wollte vom Berliner Senat vor einigen Jahren in Erfahrung bringen, wie viele allgemeinbildende Schulen in Berlin denn vollständig barrierefrei seien.  Unter barrierefrei verstand er rollstuhlgerecht und mit Blindenleitsystemen ausgestattet. Die Antwort des Senats: Schulen sind Bezirkssache. Daher wurde seine Anfrage in die Bezirke weitergeleitet. Einige davon haben sich die Mühe gemacht, zu antworten und oftmals blumig erklärt, warum keine oder kaum eine Schule tatsächlich barrierefrei ist. Andere Bezirke wiederum war dies nicht einmal eine Auskunft wert. 

Scheinbar gibt es also kein zentrales Verzeichnis über die Rollstuhlgerechtigkeit der Berliner Schulen. Jedenfalls keines, das öffentlich einsehbar ist. Diese Tatsache und die Antwort der Bezirke lassen erahnen, dass die meisten Schulen für Rollstuhlfahrer nur unter Kompromissen oder gar nicht zugänglich sind. Wie kann das eigentlich sein, hat sich doch Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, Teilhabe bedingungslos zu ermöglichen?

Das Problem mit den Schwerpunktzentren

Da Bildung im Rahmen unseres Föderalismus aus unerfindlichen Gründen Ländersache ist, kocht hier nun bei der Umsetzung jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. Berlin hat dafür einen Weg gewählt, der einen gewissen Diskussionsstoff bietet: Es wurden Förderzentren geschaffen, an denen Inklusion umgesetzt wird. Diese sind dann auch rollstuhlgerecht gestaltet. Auch einige andere Schulen sind offenbar rollstuhlgerecht, aber es ist eine Mammutaufgabe, sich durch den Dschungel an Zuständigkeiten zu kämpfen. Die Berliner Verwaltung geht damit den sehr bequemen Weg, alle Schüler, die aus irgendwelchen Gründen nicht ihre wohnortnahe Schule besuchen können, in Schwerpunktschulen zu stecken.

Ich stelle mir dabei die Menschen vor, die den Anstoß zur UN-Behindertenrechtskonvention gegeben haben. War die Grundidee dabei eigentlich wirklich “Wir nehmen jetzt alle SchülerInnen mit erweitertem Förderbedarf und stecken sie zusammen in Zentren”? Der Grundgedanke von Inklusion ist eine allgegenwärtige vielfältige Gesellschaft, in der jeder bedingungslos teilhaben kann. Der Widerspruch dabei sollte damit nun absolut offensichtlich sein: Inklusion kann zwar punktuell stattfinden, das ist kein Problem. Aber einzelne inklusive Leuchtturmprojekte, wie solche Vorzeigebeispiele dieser Tage genannt werden, machen eben keine inklusive Gesellschaft aus. 

Ein uraltes Sprichwort sagt: “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.” Unsere Eltern und Lehrer haben es mit erhobenem Zeigefinger rezitiert, um uns zum Lernen anzutreiben. Und sie hatten in gewisser Weise damit Recht. Sozialisierung beginnt im Kleinkindalter. Hier wird der Grundstein für Sozialverhalten gelegt. Aber wie soll denn ein Kind Behinderung als Normalität begreifen, wenn es damit nie in Berührung gekommen ist? Die Kinder, die in unserem Mehrfamilienhaus leben, kennen Adina teils von Geburt an und sind an RollstuhlfahrerInnen gewöhnt. Für sie ist ein Rollstuhl Normalität. Andere hingegen sehen im Rollstuhl etwas Bemitleidenswertes – eben weil sie nicht das Privileg hatten, mit Menschen mit Behinderung in Berührung zu kommen.

Organisatorische Herausforderungen

Doch neben dieser grundsätzlichen Kritik bringen die “Inklusiven Schwerpunktschulen”, wie sie in Berlin tituliert werden, noch andere Schwierigkeiten mit sich. Es gibt davon aktuell anscheinend gerade einmal 36 Stück in ganz Berlin. Der Senat feiert diese Tatsache als Erfolg. In der Praxis sieht das zumindest an einer Schule, in die ich Einblicke habe, so aus, dass viele der SchülerInnen mit Behinderung aus unterschiedlichsten Stadtteilen mit dem Fahrdienst dort abgesetzt und nach dem Unterricht wieder abgeholt werden. Genau in den Zeiten, in denen Freundschaften entstehen und Aktivitäten außerhalb der Schule möglich sind, werden diese SchülerInnen also wieder nach Hause chauffiert.

Auch sonst gibt es wenig Gründe, sich darauf auszuruhen und nicht daran zu arbeiten, Schulen behindertengerecht zu machen. Gerade einmal drei Prozent der Menschen mit Behinderungen in Deutschland haben eine angeborene Behinderung. Der überwiegende Anteil erwirbt sie später im Laufe ihres Lebens. Das macht auch vor SchülerInnen und LehrerInnen keinen Halt. Diese Menschen würden genauso von Barrierefreiheit profitieren. Ganz abgesehen davon, dass es schlicht komfortabler ist, eine Schräge oder eine Rampe zu benutzen statt Treppen. Architekten und Denkmalschützer scheinen aber alle eine große Vorliebe für Treppen zu teilen. Zumindest so lange, bis sie eine körperliche Einschränkung davontragen.

Inklusion an Schulen bedeutet Umsetzung der UN-BRK – jetzt!

Das Berliner Bündnis für schulische Inklusion, dem zahlreiche Aktivisten, Selbsthilfeverbände, aber auch Pädagogen angehören, fordert seit Langem eine echte Umsetzung der UN-BRK, macht in mühevoller Kleinarbeit auf Missstände aufmerksam. Natürlich ist der Paradigmenwechsel, den die Konvention mit sich gebracht hat, nicht einfach umzusetzen, schon gar nicht in einem föderalistischen Staat: Der wesentlichste Punkt der UN-BRK ist, dass sich nicht der Mensch dem System anpassen muss, sondern dass das System an den Menschen angepasst wird.

Das ist tatsächlich in Anbetracht der großen Vielzahl individueller Anforderungen keine leichte Aufgabe. Aber sie ist lösbar, wie die skandinavischen Länder beweisen. Es scheint aber, als würde Deutschland wie so oft eher Probleme diskutieren, als über Lösungen nachzudenken und sich an Best-Practice-Beispielen zu orientieren. Ein Phänomen, das seit meiner Kindheit in den Achtziger Jahren deutlich zugenommen hat – das Klischee vom deutschen “Land der Erfinder und Tüftler”  erweist sich wieder eher als Land der Paragraphenreiter und Zweifler. “German Angst” ist nicht umsonst ein internationaler Begriff für deutsche Zögerlichkeit.

Deutschland ist dabei, eine Chance auf eine große gesellschaftliche Veränderung hin zum Guten zu verpassen. Wie so oft wird nicht auf die Vorteile von Inklusion und einer bunten, vielfältigen Gesellschaft geschaut, in der sich jeder individuell mit seinen Stärken einbringen und gemeinsam unser aller Zukunft bauen könnte. Nein, wir diskutieren Kosten, suchen mit Hilfe eines teuren Verwaltungsapparates nach Wegen, dieses Ziel zu umgehen und den Status Quo weiter zu behalten, geben Unsummen für Gutachten und externe Berater aus.

Für uns bedeutet das ganz praktisch, dass wir keine Ahnung haben, ob meine Frau jemals den Elternabend des Kindes besuchen kann. Denn in dem Land der Dichter und Denker, in dem das Internet noch vor einigen Jahren von höchster Stelle aus “Neuland” tituliert wurde, ist nicht zu erwarten, dass wir bis zu ihrer Einschulung eine Datenbank finden werden, die uns die Suche nach einer rollstuhlgerechten Schule ermöglichen wird. Die Wheelmap kennen wir natürlich – aber eine Verwaltung in Berlin sollte so etwas im Jahr 2022 eigentlich selbst zustande bringen. Eigentlich.

Noch eine Zukunftsthema

Bis es aber soweit ist, werde ich mich nun erst einmal zusammen mit meiner Gattin um einen Kita-Platz für das Kind umsehen. Dafür gibt es erstaunlicherweise auch Datenbanken mit überraschender Detailtiefe. Gedanklich sind wir allerdings zugegebenermaßen noch am Meer – wo unser Kind nun zum ersten Mal in seinem Leben Ostseewasser auf der Haut hatte. Und der Strand war sogar rollstuhlgerecht. Wenn wir also jemals im Lotto gewinnen sollten, werde ich dem Kind einfach Privatunterricht am barrierefreien Ostseestrand buchen! Unterricht im Strandkorb, in den Pausen Abkühlung in der Ostsee, Fischbrötchen zum Mittag, und Elternabend bei Fackelleuchten an der Sandburg. Müsste Schule eigentlich nicht genau so aussehen?

Über den Autoren

Timo Hermann betreibt gemeinsam mit seiner Frau Adina das 2013 gegründete Reiseblog “Mobilista.eu”. Dort schildern die beiden nicht nur wie der Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl gelingt, sondern schildern auch ihre Erlebnisse von Reisen in Europa, aber auch Übersee-Destinationen wie Curacao und Kanada. Adina ist Rollstuhlfahrerin und Head of Design beim SOZIALHELDEN e.V., Timo freiberuflicher Reiseblogger, Fotograf und Berater. Sie suchen sich ständig neue Ziele und skizzieren auf ihrem Blog die Länder, die sie bereisen, die dortigen Menschen, ihre Kultur und vor allem ihre Kulinarik. Und natürlich gibt es einige Details zur Rollstuhlgerechtigkeit der Ziele.

Titelfoto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de