Schönheit als Norm
Unser Gastautor Timo Hermann setzt sich dieses Mal mit Schönheit und ästhetischen Normen auseinander. Warum spielen ästhetische Urteile in unserer Gesellschaft eine so große Rolle und wie kann man am besten dem Körperkult entgehen?
Das war es nun also. Die Feiertage sind vorbei, das neue Jahr hat begonnen. Ratlos blicken wir uns um: die Adventsvorfreude ist vorbei, die Geschenke ausgepackt und zum Dreikönigsfest packen Traditionalisten ihre Weihnachtsdekoration zurück in den Keller.
Die Weihnachtszeit und die Zeit zwischen den Jahren war bei vielen von uns von Genuss geprägt. Und manch einer bekommt von der Waage eine schonungslose Abrechnung über Plätzchen, Glühwein, Weihnachtsmenü und Bequemlichkeit präsentiert. Nicht wenige Menschen werden nun also wieder gesundheitsbewusst und wollen ihre guten Vorsätze von Silvester in die Tat umsetzen: Gesündere Ernährung, mehr Bewegung, Abnehmen – das steht bei ganz vielen Menschen weit oben auf der Liste der Vorsätze für das neue Jahr. Fitness-Studios verzeichnen Jahr für Jahr im Januar Rekordzahlen an Anmeldungen, die sich oft im Sande verlaufen. Denn die meisten guten Vorsätze verpuffen genauso schnell, wie man sie gefasst hat.
Warum tun wir uns das eigentlich jedes Jahr aufs Neue an? Stören die paar Kilo mehr auf den Rippen uns selbst? Oder ist es die Angst vor sinkender gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn wir körperlich nicht dem Ideal entsprechen? Und wer legt dieses Ideal eigentlich fest?
Gründe für den Körperkult
Viele Faktoren spielen eine Rolle. Weit voran sind die Medien und die Werbeindustrie. Jüngst besuchte ich eine Messe, auf der Gratisexemplare eines neuen Familienmagazins verteilt wurden. Auf dem Titelblatt war das Portrait eines Mädchens abgebildet, das ungefähr acht oder neun Jahre alt ist. Das Magazin ist wie eines der typischen Lifestyle- oder Modemagazine aufgebaut. Das Kind auf dem Cover ist stark geschminkt, hat den typisch gelangweilt-neutralen Blick eines Models und trägt eine erkennbar teure Bluse samt Weste. Zunächst glaubte ich an eine Satire-Version eines Modemagazins. Doch es scheint den Herausgebern Ernst zu sein (und inhaltlich ist das Heft, um den Machern des Magazins nicht Unrecht zu tun, abwechslungsreich, teils durchaus interessant und vielfältig).
Doch der erste Eindruck bleibt bei mir hängen und ich frage mich, ob es richtig ist, schon den Kleinsten solche fragwürdigen Ideale zu vermitteln. Waren wir als Gesellschaft denn nicht gerade dabei, uns von Klischees zu verabschieden? Wollten wir nicht mehr Vielfalt und “Body Positivity”, also eine gesunde und unabhängige positive Einstellung zu unserem Körper, leben?
In den Medien wird allgegenwärtig über Mode und Figurbewusstsein diskutiert. Ob Mode- oder Frauenzeitschriften, aber auch allgemeine Zeitschriften und TV-Formate, das bestimmende Thema sind Äußerlichkeiten. Die letzte Berliner Regierungskoalition feierte das Verbot sexistischer Werbung als Erfolg. Mehr als ein Teilsieg gegen einen überbordenden Industriezweig, der sich allein mit derlei Äußerlichkeiten am Leben erhält, ist das aber nicht: Mode, Kosmetik, die Pharmaindustrie, Medien – mit (vermeintlicher) Schönheit lässt sich extrem viel Geld verdienen. Demnach dürfte es eine sehr große Lobbygruppe geben, die Interesse daran hat, den Status Quo zu erhalten und weiterhin Schönheitsideale zu vermitteln. Frauen stehen dabei gefühlt noch stärker unter Druck als Männer.
Schönheit und Kindheit
Doch die Konfrontation mit ästhetischen Stereotypen beginnt bereits in der Kindheit, womit wir wieder bei dem vorhin erwähnten Familienmagazin wären. Auch wenn Geschlechterneutralität gerade bei Kinderbekleidung inzwischen eine deutlich größere Rolle spielt als noch vor 20 Jahren und längst nicht mehr alle Jungs blaue und alle Mädchen rosa Klamotten tragen müssen, sitzt tief in vielen Köpfen noch die traditionelle Denkweise, dass sich Jungs beim Toben ruhig richtig verdrecken dürfen, während Mädchen doch bitte artig und sauber zu sein haben. Und das zieht sich durch die Pubertät bis ins Erwachsenenalter.
Schon die Kleinsten werden auf Äußerlichkeiten geprägt. Sie merken es zwar meist noch nicht und auf dem Spielplatz ist es den Kindern herzlich egal, wie die anderen Kinder aussehen. Aber spätestens auf dem Schulhof beginnt das unvermeidliche Getuschel – bis hin zu Mobbing, wenn ein Kind keine angesagten Klamotten trägt. Das erwähnte Magazin bemüht sich zwar, zumindest in Bekleidungsfragen auf Geschlechterklischees zu verzichten. Es transportiert dann aber dennoch in Hochglanzfotos die bekannten Schönheitsideale, was insbesondere bei Kindern eher fragwürdig ist. Gesamtgesellschaftlich gibt es schließlich inzwischen große Bemühungen, Diversität und Vielfalt schon im Kindesalter zu vermitteln, was allerdings auch nicht überall auf Gegenliebe stößt. Konservative Kräfte stemmen sich mit aller Kraft dagegen und es gibt Gruppierungen, die nach wie vor am Familienmodell der Sechzigerjahre festhalten.
Gründe für die Dominanz von Schönheitsidealen
Aber warum sind wir eigentlich als vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft so anfällig für solche schnellen Urteile? Warum sind wir so fixiert auf Äußerlichkeiten, die in Wirklichkeit ja völlig unwichtig, weil sehr schnell vergänglich sind? Machen wir uns doch nichts vor. Wir alle altern und körperliche Schönheit liegt ja letztlich nicht nur im Auge des Betrachters. Sie ist auch ein nur zeitlich begrenzter Zustand – zumindest im Hinblick auf die Ideale, die unsere Medien transportieren. Die “Blüte der Jugend”, die schon in der Antike als Schönheitsideal galt, ist angesichts der heutigen Lebenserwartung schon nach weniger als einem Drittel des Lebensdurchschnitts vorbei. Und Kleidung ist beliebig austauschbar. Was bleibt, sind die oft zitierten inneren Werte, der Charakter.
Der Charakter ist aber nicht sichtbar und leider spielt uns unser Gehirn hier einen Streich: Wir kategorisieren. Jeder von uns. Wir speichern Informationen in Schubladen organisiert ab.Genau das macht uns anfällig für Stereotypen und Vorurteile. Ein Blick auf einen Menschen genügt und unser Gehirn sortiert seine Schubladen, betrachtet diesen Menschen und sucht nach ähnlichen Erfahrungen. Dort wird der erste Eindruck abgelegt. Das Klischee entsteht. Entkommen können wir diesem Kreislauf nur, indem wir uns bewusst machen, dass Äußerlichkeiten zweitrangig sind und der erste Eindruck täuschen kann. Dennoch entscheiden wir in den ersten Sekunden des Kennenlernens, ob wir einen Menschen sympathisch finden oder nicht. Nur, wenn wir uns über unsere Vorurteile ehrlich bewusst sind, können wir diese auch überwinden.
Wege aus dem Dilemma
Die Wege aus dem Dilemma beginnen mit moderner Bildung, die Vielfalt und Diversität fördern und vermitteln soll, dass Unterschiede zwischen den Menschen wichtig sind: Laut Definition geht es beim Anti-Bias-Ansatz darum, die Diskriminierungen in der Gesellschaft aufzudecken und die Vorurteile auf der zwischenmenschlichen und gesellschaftlich-kulturellen Ebene abzubauen. Kinderbücher beispielsweise werden vielfältiger. Es gibt dort Menschen verschiedener Hautfarbe, unterschiedlicher Geschlechter, in unterschiedlichen Altersgruppen. Viele traditionelle Kinderbücher haben dagegen oft genau jene gesellschaftlichen Klischees zementiert, die wir jetzt überwinden wollen. Auch andere Medien ziehen nach und bilden mehr Vielfalt ab.
Gleichzeitig werden aber oft weiterhin Schönheitsideale vermittelt, die nicht unbedingt mit dem durchschnittlichen Äußeren der Menschen übereinstimmen. Die Herstellerfirma Mattel der Barbie-Puppe ist ein prominentes Beispiel, das häufig in der Kritik steht. Denn anatomisch kann die vermeintliche Schönheit der Barbie-Puppe ohne aufwendige chirurgische Eingriffe praktisch nicht erreicht werden. Gleichzeitig spielen aber seit Generationen Millionen Mädchen damit und bekommen so schon in früher Kindheit unerreichbare Ideale gezeigt. Aber selbst dort ist die Kritik inzwischen angekommen und die Puppen wurde langsam zu einem realistischeren Erscheinungsbild hin verändert. Wenn Kinder realistische Vorbilder erleben, wird das oft unglückliche Streben nach unerreichbaren Idealen vielleicht mit der Zeit etwas weniger werden.
Ein guter Vorsatz für die Zukunft: Entspannter Umgang mit Schönheit
In dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft tatsächlich aufgeklärter und fortschrittlicher als vor einigen Jahrzehnten. Kaum jemand hätte in den Achtzigerjahren zugegeben, Vorurteile zu haben. Heute wissen wir hingegen, dass jeder Mensch durch sein Umfeld, aber auch durch seine Denkweise von Stereotypen geprägt ist, weil das Gehirn auf diese Weise leichter Informationen sortieren kann. Wenn wir es jetzt schaffen, uns das bewusst zu machen und damit bewusst umzugehen, ist der nächste Schritt nicht mehr weit. Dann können wir wirklich eine offene Gesellschaft werden, die Vielfalt begrüßt, in der jeder seinen Platz findet, ganz gleich, wie er oder sie aussieht. Das jedenfalls wäre mein Wunsch für unsere Tochter.
Vielleicht sollten wir uns alle auf die Liste der Vorsätze schreiben, Menschen nicht auf den ersten Blick abschließend zu beurteilen, sondern uns mit ihnen auseinanderzusetzen und sie kennenzulernen, bevor wir uns ein Urteil über sie bilden. Vielleicht entwickelt sich daraus ja die eine oder andere ganz neue Bekanntschaft. Und wenn nicht, haben wir nichts verloren.
Titelfoto: „beauty is forever“ von Justine Warrington unter der Creative-Commons-Lizenz: CC BY 2.0