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Ein Werkstattmitarbeiter steht mit einem Akkuschrauber in der Hand vor einer Parkbank, die restauriert werden soll.

Einblicke in eine WfbM: Zu Besuch bei der Nordbahn

Werkstätten für behinderte Menschen (kurz: WfbM) werden in der Öffentlichkeit häufig kontrovers diskutiert. Wir wollten uns ein eigenes Bild von ihnen machen und sind dafür in die brandenburgische Gemeinde Glienicke/Nordbahn gefahren. Dort besuchten wir die Nordbahn gGmbH, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Gesellschafter der Nordbahn gGmbH sind die Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin und die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. Oberhavel Süd.

WfbM – Unter Generalkritik?

Die kritischen Fragen zu den WfbM sind vielfältig und betreffen unterschiedliche Aspekte: Sind diese Einrichtungen noch zeitgemäß? Kann eine stärkere Teilhabe von Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsplatz mit ihnen gelingen? Werden die Menschen dort angemessen bezahlt? Muss das Arbeitsentgelt anders auf die Grundsicherung angerechnet werden? Gibt es bessere Alternativen als einen gesetzlichen Mindestlohn? Es ist wichtig, regelmäßig Fragen zu stellen, um eine Verbesserung und Weiterentwicklung zu erreichen.

Insbesondere Behindertenaktivistinnen und -aktivisten kritisieren die WfbM regelmäßig, da diese einem besseren Zugang von Menschen mit Behinderung zum ersten Arbeitsmarkt im Wege stünden. Der Arbeitsmarkt verändert sich allerdings nur langsam, viele Unternehmen zahlen lieber die Ausgleichsabgabe als Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Laut Inklusionsbarometer 2019 liegt die Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gerade einmal bei 4,63%.

Welche Rolle spielen Werkstätten in diesem Kontext? Dieser Frage wollen wir bei der Nordbahn gGmbH nachgehen.

Jenseits von Vermittlungsquoten

Im Vordergrund von Werkstattbetrieben steht, laut Gesetzgeber, die berufliche Rehabilitation:

(1) Die Werkstatt für behinderte Menschen ist eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben im Sinne des Kapitels 10 des Teils 1 und zur Eingliederung in das Arbeitsleben.Sie hat denjenigen behinderten Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können,
1. eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis anzubieten und
2. zu ermöglichen, ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln.“


„§ 219 – Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Darüber hinaus sollen die Mitarbeiter der WfbM gezielt auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Die Umsetzung dieses Anspruchs ist in der Realität aber kompliziert, erklärt Micha Schaub, Geschäftsführer der Nordbahn gGmbH: „Wir sind immer bestrebt, jedem Mitarbeiter die Unterstützung zu geben, die sie benötigen“, erklärt er. Er macht aber auch klar, dass hier drei unterschiedliche Dimensionen aufeinandertreffen.

Micha Schaub sitzt an einem Schreibtisch und schaut lächelnd in die Kamera.
Geschäftsführer Micha Schaub in seinem Büro.

An erster Stelle steht der Mensch persönlich mit seinen Wünschen und Fähigkeiten, dann folgen die Möglichkeiten der Werkstatt und nicht zuletzt die Bereitschaft des Arbeitsmarktes zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung: „Wir können nur beeinflussen, was Werkstätten denken und tun. Unsere Einflussmöglichkeiten auf die Wirtschaft sind gering. Wir legen jedoch großen Wert darauf, dass jeder sich ausprobieren und erproben kann.“ Das ginge bei der Nordbahn beispielsweise durch Praktika, in ausgelagerten Arbeitsgruppen, teilweise auch in Schichtarbeit, oder durch Gespräche mit den Nordbahn-Job-Coaches. Man schaue Stück für Stück, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit für den ersten Arbeitsmarkt sind oder nicht. Man schaffe nötige Strukturen und richte sich nach den Wünschen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn der konkrete Wunsch da ist, die Werkstatt zu verlassen, dann unterstütze die Nordbahn ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei.

„Bei der Nordbahn legen wir großen Wert darauf, dass jeder das werden und machen kann, was er möchte.“

Micha Schaub

Noch immer gibt es Vorbehalte auf dem Arbeitsmarkt

Realität ist heute allerdings auch, dass viele Betriebe keine Menschen mit Behinderung anstellen wollen. Micha Schaub berichtet von einem Fall, in dem ein Mitarbeiter der Nordbahn bereits längere Zeit zuverlässig als Praktikant (einem sog. „ausgelagertem Arbeitsplatz“) in einem Baumarkt tätig war. Als es dann konkret um den Wunsch nach einer Übernahme ging, gab der Arbeitgeber zu verstehen, dass er keine Menschen mit Behinderung anstelle. Die Kooperation mit dem Unternehmen wurde daraufhin natürlich eingestellt. Aber es sei auch bei weitem nicht so, dass alle Werkstattmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf den ersten Arbeitsmarkt möchten. Das sei eine Perspektive die Micha Schaub in der Diskussion um WfbM oft zu kurz kommt:

„Wenn jemand auf den ersten Arbeitsmarkt möchte, müssen wir mit aller Kraft dahinterstehen und sie oder ihn dabei unterstützen. Wenn das jemand aber bewusst nicht möchte, dann ist das genauso in Ordnung. Diese Perspektive fehlt oft in der Diskussion.“

Micha Schaub

Der Wunsch, die WfbM zu verlassen, müsse von den Menschen selbst kommen. Manche schätzen den geschützten Bereich der Werkstatt. Manche wollen auch nur für eine bestimmte Zeit aus dem Werkstattbetrieb raus, um beispielsweise über den Sommer im Gartenbau zu arbeiten. Wiederum andere wollen nach einem Praktikum oder dem Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt gerne wieder zurückkommen.

Ist der erste Arbeitsmarkt uneingeschränkt besser?

Die Forderung nach einem verbesserten Zugang behinderter Menschen zum ersten Arbeitsmarkt ist absolut richtig und wichtig. Die Behinderung darf niemals ein Ausschlusskriterium sein, wenn die Qualifikation stimmt. Sie darf auch kein Kriterium sein, ob man einen Ausbildungsplatz bekommt oder nicht. Jeder soll selbst bestimmen können, was er oder sie lernen und arbeiten möchte.

Allerdings dürfen auch die Menschen nicht vergessen werden, die aufgrund ihrer Einschränkungen den Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes (noch) nicht gewachsen sind und dadurch vom geschützten Raum der Werkstatt profitieren. Außerdem wird häufig vergessen, dass viele Menschen, die in einer WfbM tätig sind, mit großer Wahrscheinlichkeit im Niedriglohnsektor arbeiten würden. Ihr Einkommen würde dann aktuell nur knapp über der Grundsicherung liegen. Viel mehr Geld als heute stünde ihnen daher unterm Strich nicht zur Verfügung. In der Werkstatt profitieren sie allerdings wenigstens von überdurchschnittlichen Rentenbeiträgen. Denn nach 20 Jahren haben sich Menschen in einer WfbM eine Rentenanwartschaft erarbeitet, die sich am bundesweiten Durchschnittsverdienst orientiert.

Dennoch gibt es Schwierigkeiten, deren Ursache der besondere sozialrechtliche Status von Werkstattmitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist. Beatrix Babenschneider, die 2. Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte Berlin, forderte vor diesem Hintergrund auf dem Podium der Veranstaltungsreihe Menschen.Rechte beispielsweise:

„Momentan ist es für Werkstattbeschäftige so, wir bekommen ein Entgelt. Einen kleinen Teil von unserer Werkstatt und dann bekommen wir Grundsicherung oder Rente vom Amt. Das ist ziemlich kompliziert, wenn du aus allen Richtungen Geld bekommst. Wir fordern deshalb vom Senat Geld aus einer Hand. Wir wollen das Geld, das wir erhalten, von unserem Arbeitgeber, komplett von unserer Werkstatt bekommen.“

Beatrix Babenschneider

Außerdem fordert sie, dass gezahlte Prämien nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden. Gleichzeitigt ist sie jedoch überzeugt, dass die WfbM für viele Menschen ein wichtiger Arbeitsplatz sein können:

„Ich kann nur für mich sprechen. Für mich hat es wirklich fast mein Leben gerettet, dort zu arbeiten. Für mich ist es ein Sprungbrett, wieder auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen.“


Beatrix Babenschneider

Die Nordbahn – WfbM mit Fokus auf Fertigung und Technik

Die Nordbahn ist eine industriell ausgerichtete WfbM mit unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Von Montage- und Verpackungsarbeiten, über die Arbeit mit Holz, Papier und Druck bis hin zu Gartenarbeiten und Hauswirtschaft – die Nordbahn ist vielfältig und innovativ. Das sieht man auch im Sondermaschinenbau. Dort werden für spezielle Aufträge individuelle Maschinen entwickelt, den Bedarf des Menschen, der sie bedient, und seine Behinderung angepasst sind.

Eine in der Konstruktion befindliche Maschine mit Roboterarm.
Im Sondermaschinenbau werden bei der Nordbahn gezielt Maschinen entwickelt.

Wenn jemand jedoch nicht mit der Arbeit in der Nordbahn zurechtkommt, sondern eher ein kreatives Händchen hat, wird er auch in eine andere Werkstatt oder an andere Arbeitgeber vermittelt. So konnte beispielsweise schon ein ehemaliger Mitarbeiter der Nordbahn über die VIA Werkstatt zum Berliner Theater RambaZamba vermittelt werden. Alles eine Frage der Herangehensweise und richtigen Unterstützung, betont Micha Schaub.

Unser Eindruck und was bleibt

Das Bild von unglücklichen Menschen, die in tristem Umfeld reiner Fließbandarbeit nachgehen, bekommen wir bei der Nordbahn definitiv nicht. Viel mehr sehen wir einen vielfältigen Produktionsbetrieb mit selbst entwickelten Maschinen und selbstbewussten Menschen, die an diesen Maschinen arbeiten. In den Gesprächen sind viel Freude und vor allem Stolz auf die eigene Arbeit und die geleisteten Innovationen zu spüren.

Wir treffen bei der Nordbahn gGmbH auf aufgeweckte, interessierte und vor allem gut gelaunte Menschen, die gerne über ihre Arbeit sprechen und ganz genau erklären, was sie machen. Auch bekannte Gesichter von Rehabilitanden aus dem P.A.N. Zentrum in Berlin-Frohnau sind dabei. Den ein oder anderen müssen wir in seinen Ausführungen zwischendurch regelrecht bremsen, weil wir ja so viele Stationen wie möglich sehen möchten. Die Kritik wird dennoch anhalten und das ist auch gut so. Wie die Gesellschaft sind auch WfbM stets im Wandel. Ihre Rahmenbedingungen sowie Funktionen müssen immer wieder neu ausgehandelt und angepasst werden. Auch im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes wird an einigen Stellen noch nachjustiert werden müssen. Die Fürst Donnersmarck-Stiftung begrüßt diese Diskussionen und ist daran interessiert, Lösungen zu finden und neue Wege zu ebnen. Wichtig ist vor allem, dass stets der Blick auf den einzelnen Menschen bewahrt wird. Jeder soll nach seinen Wünschen und Vorstellungen arbeiten können. Egal ob Studium, Ausbildung und erster Arbeitsmarkt oder in einer Werkstatt.