Die Beauftragten: Interview mit Ulrike Ehrlichmann
Für unserer Reihe „Die Beauftragten“ sprechen wir nach und nach mit den Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen aus den unterschiedlichen Berliner Bezirken. Heute präsentieren wir euch unser Interview mit Ulrike Ehrlichmann, die seit 2004 die Beauftragte für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist.
Von der Migrationsbeauftragten zur Behindertenbeauftragten
Beschreiben Sie uns doch kurz Ihren Weg in das Amt der Bezirksbehindertenbeauftragten von Friedrichshain-Kreuzberg.
Ulrike Ehrlichmann: Ich war vorher Migrationsbeauftragte in Friedrichshain-Kreuzberg. Und dann habe mit 39 Jahren noch mal ein Kind bekommen. Und als Migrationsbeauftragte ist man, wenn man Pech hat, jeden Abend in irgendeiner Sitzung. Das ist man als Behindertenbeauftragte nicht. Das Thema ist politisch nicht so aufgeheizt wie der Bereich Migration. Meine Vorgängerin ging zu dem Zeitpunkt in Rente und da habe ich mich dann auf die Stelle beworben und habe gewechselt. Ich war dann zum Übergang erst einmal Mitarbeiterin bei meiner Vorgängerin und habe die Stelle der Behindertenbeauftragten dann 2004 übernommen.
Hatten Sie vorher schon Berührungspunkte mit dem Thema Behindertenpolitik – beziehungsweise Themen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen?
Ulrike Ehrlichmann: Ich war seit 1992 Ausländerbeauftragte – so hieß es damals noch – in Friedrichshain. Im Anschluss an die Bezirksfusion dann Migrationsbeauftragte in Friedrichshain-Kreuzberg. Meine Vorgängerin als Behindertenbeauftragte, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte und ich als damalige Migrationsbeauftragte teilten uns zwei Büros. Dadurch gab es schon damals eine sehr enge Zusammenarbeit. Man wusste voneinander, konnte voneinander lernen und die Themen untereinander waren bekannt. Dadurch, dass ich in Friedrichshain wohne, waren mir die bezirklichen Strukturen auch sehr vertraut. Von der Herangehensweise, von der Arbeitsstruktur hat sich nichts verändert, außer die Zielgruppe natürlich. Der Wechsel hat aber Spaß gemacht und ich bin gut angekommen bei der Zielgruppe Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige.
Ulrike Ehrlichmann hat den Ehrgeiz mehr zu bewegen
Hat Sie an dem Amt oder an der Rolle etwas besonders gereizt?
Ulrike Ehrlichmann: Ja, Die Offenheit und die Geradlinigkeit der Menschen mit Behinderung. Und es hat mich gereizt, dass im Vergleich zur Zielgruppe Migranten das Thema politisch so vernachlässigt wird. Also da mehr Unterstützung, mehr Kraft reinzugeben, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen gleichwertig mit den Belangen aller anderen Zielgruppen gesehen werden. Man hat auch heute immer noch das Gefühl, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen außerhalb von Großereignissen und nationalen wie internationalen Gedenktagen eher lästig sind. Dagegen etwas zu tun hat meinen Ehrgeiz angestachelt.
Sie selbst leben aber nicht mit einer Behinderung, sind also quasi keine Selbstvertreterin?
Ulrike Ehrlichmann: Nein, ich bin keine Selbstvertreterin und auch in meiner Familie außer den allgemeinen Alterscheinungen bei den Eltern, gibt es niemanden, der mit einer angeborenen oder erworbenen Behinderung lebt. Also meine Vorgängerin war eine Frau, die Polio hatte als Kind. Und somit an Stützen und später dauerhaft den Rollstuhl nutzte, sodass der Kontakt im Arbeitsbereich vorhanden war. Und in meinem Freundeskreis gibt es Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen, sodass privat Berührungspunkte da sind. Ich bin viel in den Einrichtungen des Bezirkes unterwegs, sei es bei Integral oder bei MINA e.V., sodass ich nicht nur in meinem Elfenbeinturm am Computer sitze. Und unterwegs nehme ich mir auch gerne die Zeit, mich mit den Menschen zu unterhalten. So bekomme ich viel aus dem Lebensalltag mit, dazu gehören dann auch ganz profane Sorgen, beispielsweise wie blöd das Miteinander in der WG gerade ist.
Viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen leben selbst mit einer Behinderung. Gibt es manchmal Vorbehalte deswegen oder hat es Auswirkungen?
Ulrike Ehrlichmann: Am Anfang, also vom Wechsel von einer Behindertenbeauftragten mit Behinderung zu mir, gab es schon Vorbehalte. Und die wurden auch nicht verdeckt geäußert. Aber im Laufe der Zeit und im Laufe meiner Arbeit sind diese Vorbehalte verschwunden. Man muss aber auch sagen, dass die Stelle heute vermutlich nicht mehr mit mir besetzt werden würde, weil man heute viel sensibler an das Thema herangeht.
Veranstaltungen und Projekte in Friedrichshain-Kreuzberg
Was sind denn aktuell die wichtigsten Vorhaben für Sie im Bezirk?
Ulrike Ehrlichmann: Gerade vorbei ist unsere große Party im Park. Da hatten wir ein wirklich großes und wunderbares Fest in Kooperation mit dem Verein Handiclapped-Kultur Barrierefrei. Die haben ihren 15. Geburtstag gefeiert in der Freilichtbühne Friedrichshain. Wir hatten ein Live-Programm von 15 bis 22 Uhr. Und auf dieser Freilichtbühne, das ist ja das Schöne, ist Platz ohne Ende. Wir hatten um die 800 Besucherinnen und Besucher, Platz zum Tanzen für jeden Rollstuhlfahrer und für jede Rollstuhlfahrerin und jeder Blindenbegleithund und sonstiger Hund konnte sich frei austoben. Es war wirklich eine sehr schöne, eine gelungene Veranstaltung.
Einen Monat vorher, am 15. Mai war der große Fachtag „Nein, zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen“. Das war eine bundesweite Fachveranstaltung und Kooperation aller Behindertenbeauftragten und aller Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, die aufgrund der Pandemie und des Kriegsausbruchs in der Ukraine verschoben und insgesamt anderthalb Jahre vorbereitet wurde. Das war wirklich anstrengend, aber es hat sich gelohnt.
Worauf ich mich jetzt besonders freue, ist dann wieder der 03. Dezember, der internationale Aktionstag der Menschen mit Behinderungen. Da führen wir zum dritten Male ein inklusives Basketballturnier durch. Mit Mannschaften, die auch im Regelbetrieb spielen, und welchen, die sich aus Einrichtungen, Trägern, den Nachbarschaftshäusern und so weiter zusammensetzen. Flankiert wird das Ganze mit einem Sportfest mit Aktivitäten für Familienangehörige und alle anderen.
Das sind aber nur die großen Events im Bezirk. Was regelmäßig stattfindet sind beispielsweise Berollungen von Objekten oder Straßenabschnitten zusammen mit dem Behindertenbeirat, um eben die Barrierefreiheit zu prüfen. Da sammeln wir Hinweise für das Straßen- und Grünflächenamt, wo beispielsweise Bordsteinkanten oder Absenkungen fehlen. Zuletzt haben wir beispielsweise die Karl-Marx-Allee oder das neue Gebäude des Jobcenters Friedrichshain-Kreuzberg in der Landsberger Allee begutachtet.
Jetzt haben Sie tatsächlich schon ein bisschen vorgegriffen: Ich würde nämlich gerne wissen, wer Sie bei Ihrer Arbeit unterstützt und wie die Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeirat läuft?
Ulrike Ehrlichmann: Genau, also per Gesetz sind die bezirklichen Behindertenbeauftragten ja auch die Geschäftsführenden der bezirklichen Behindertenbeiräte. Wir haben die Beiräte 2021 neu gewählt, ein Leitungsteam von drei Personen, frischen Wind und frische Ideen. Da ist eine gute Zusammenarbeit, die ich sehr schätze. Dadurch, dass viele Perspektiven im Beirat gebündelt werden, ist das auch für mich immer noch mal ein gutes Gremium für Feedback. Ich kann meine Fragen reingeben, Perspektiven geben lassen, schauen, ob ich auf dem richtigen Dampfer bin, und mir konkrete Rückmeldungen geben lassen. Also es ist ein sehr kollegiales Verhältnis.
Ansonsten gibt es verschiedene Netzwerke, verschiedene Gremien, die ich entweder leite oder wo ich mit verankert bin. Sei es im Rahmen der Nachbarschaftshäuser, die sich auf den inklusiven Weg gemacht haben, oder fachbezogen zum Beispiel die Wohnangebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Wohn- und Freizeitangebote und mehr. Das ist aus meiner Sicht sehr vielfältig und an allen Stellen wirklich eine sehr gute Zusammenarbeit.
Was wir auch haben ist eine Schnittstellenzusammenarbeit. Zum Beispiel arbeite sehr eng mit der Migrationsbeauftragten zusammen, um Menschen mit Behinderungen und Migrationshintergrund gezielt anzusprechen und zu unterstützen. Darüber hinaus habe ich eine enge Schnittstelle zum Teilhabefachdienst, wie man denn das Amt in die Sozialräume bringen kann. Da läuft also die Vernetzung zwischen Sozialamt, dem Teilhabeamt, den Mitarbeitenden und den Projekten, die Orte bieten können, wo die Klienten ihren Teilhabeberatung treffen können.
Der Wohnungsmangel ist ein Dauerthema
Was sind denn die typischen Anliegen, mit denen die Leute aus dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg so auf Sie zukommen?
Ulrike Ehrlichmann: Wohnung, das Riesenthema Wohnung, egal ob nach Erkrankung oder nach einem Unfall: „Ich brauche jetzt eine barrierefreie Wohnung, ich wohne im dritten OG“. Ein riesiges, ungelöstes Thema. Wir als Bezirk haben ja keine eigenen Wohnungen, dafür sind die kommunalen Wohnungsgesellschaften da. Die haben einen extrem hohen Vermietungsstand und keinen barrierefreien, barrierearmen und noch weniger rollstuhlgerechten Wohnraum.
Und die Schwierigkeit der Vermittlung: Es geht alles nur noch über Online-Portale. Und da muss man schnell sein, weil viele Angebote dann schnell wieder entfernt werden. Man muss schnell sein, ein Portfolio bereit haben und sofort abgeben, ich kann also gar nicht mehrere Leute anmelden. Und dann muss man auch mindestens viermal am Tag in sein E-Mail-Postfach gucken, ob man irgendwo zu einer Bewerbung eingeladen wird. Dieses Prozedere überfordert viele Menschen. Gerade ältere, nicht so technikaffine Menschen und Menschen mit Behinderungen oder mit kognitiven Einschränkungen.
Katastrophal ist es auch, keine Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner bei den Wohnungsgesellschaften mehr zu haben. Früher konnte man dort bei besonders schweren Fällen etwas erreichen. Heute ist alles anonym und man wartet oft Monate oder gar vergeblich auf Antworten. Und die Algorithmen der Portale kennen keine Berücksichtigung sozialer Härtefälle. Das ist wirklich eine negative Entwicklung.
Gibt es sonst noch irgendwelche Themen, die die Leute in Kreuzberg vielleicht mehr beschäftigt als in anderen Bezirken?
Ulrike Ehrlichmann: Vielleicht muss man noch kleinteiliger herangehen. In den unterschiedlichen Kiezen eines Bezirkes wird es noch mal differenzierter. Wir hatten zum Beispiel ein hohes Konfliktpotenzial um die Markthalle 9 herum am Lausitzer Platz. Die wird ja von einem breiten Publikum sehr gut angenommen. Und dieses Publikum hält sich dann gerne auf den umliegenden Gehwegen auf, um das zu verzehren und zu genießen, was sie käuflich erworben haben. Da das sehr schmale Bürgersteige sind, ist oft kein Durchkommen mehr. Wenn Menschen mit Rollatoren oder Rollstühlen dann dort lang wollen, ist der Konflikt vorprogrammiert.
Dann gibt es zum Beispiel, das war für mich auch überraschend, völlig neue Konfliktlagen bei den Fahrradstraßen. Eine sehr starke sehbehinderte Frau sagte mir: „Ich will hier den Autoverkehr wieder haben, den habe ich gehört“. Wenn ein Fahrrad kommt, hören Blinde und Sehbehinderte das nicht. Zumal sich Radfahrer zum Teil auch nicht an Verkehrsregeln oder Ampeln halten, wodurch neues Konfliktpotential entsteht.
Was ist denn Ihre Vision für einen inklusiven Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg?
Ulrike Ehrlichmann: Meine Vision für einen inklusiven Bezirk ist, dass alle wir ein autofreier Bezirk sind. Ein Bezirk in dem Fahrrad-Rikschas kostenfrei alle Menschen hin und her befördern. Dass man stufenlos überall hineinkommt und alle Türen mit Schalter, Taster oder Sensor selbst öffnend sind. Das wäre meine Vision, die sich jetzt nicht nur auf Menschen mit Behinderung, sondern auf leichte Mobilität für alle bezieht. Egal ob mit Kinderwagen, zu Fuß oder mit Hilfsmitteln, die temporär oder dauerhaft durch einen Unfall, eine Behinderung oder das Alter notwendig sind. Das würde mir Spaß machen.
Und dann sollte es auch funktionieren! Nicht wie der neue Aufzug am U-Bahnhof Schlesisches Tor, der am Freitag eröffnete und am Samstag bereits klemmte. Da musste die Feuerwehr die Scheibe einschlagen, um eine Person aus dem Aufzug zu retten und seitdem ist der Aufzug schon wieder außer Betrieb.
Liebe Frau Ehrlichmann, wir bedanken uns für das Interview!