Lebensort Vielfalt: Queere WG mit Pflegedienst
Am Lebensort Vielfalt in Berlin-Charlottenburg befinden sich nicht nur die Räumlichkeiten der Berliner Schwulenberatung, sondern dort leben auch mehrere Generationen in Vielfalt zusammen. Eine Besonderheit ist das betreute Angebot für schwule Männer mit Pflegebedarf und/oder einer Demenzerkrankung. Acht Männer wohnen in einer WG und werden rund um die Uhr pflegerisch betreut. Die WG ist die europaweit erste mit diesem Profil. Wir sprachen mit Dieter Schmidt von der Schwulenberatung Berlin über die Entstehung und das Konzept der Pflege-WG.
Lebensort Vielfalt: Queere WG mit 24-Stunden-Pflegedienst
Warum wurde dieses betreute Wohnangebot geschaffen?
Insbesondere ältere schwule Männer haben eine Zeit erlebt, in der sie sich bzw. ihre sexuelle Orientierung verstecken mussten. Homosexualität galt als Krankheit und aufgrund des §175 (Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern), waren sie der Gefahr anonymer Denunziation und infolgedessen Strafen, Jobverlust und weiterer sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Als wir 2003 mit Seniorenarbeit begonnen haben, wurde an uns der Wunsch herangetragen, Pflegeangebote zu schaffen, die es Männern ermöglicht, alles was sie ausmacht, offen zu leben und nicht womöglich in einer herkömmlichen Einrichtung weiter diskriminiert zu werden– was leider teilweise immer noch vorkommt.
Braucht es also heutzutage und besonders in einer so liberalen Stadt wie Berlin noch so ein spezielles Angebot?
Berlin ist in gewisser Weise vorbildhaft. Daran haben wir aber auch lange gearbeitet. Wir sind z.B. Mitglied im Landespflegeausschuss und im Seniorenbeirat. Auch sind wir an vielen Orten im Gespräch, um zu erreichen, dass sich die Angebote für die LSBTI*-Community (Lesben, Schwule, Bisexuelle, transsexuelle und intergeschlechtliche Menschen) öffnen. Wir schulen zu den spezifischen Themen und erfahren dabei oft Unterstützung von Seiten des Senats. Trotzdem braucht es die Angebote und Schutzräume, weil es nach wie vor individuell diskriminierende und gewalttätige Erfahrungen gibt. Wir sehen es als unsere Aufgabe, für Sichtbarkeit zu sorgen. Nur so können wir dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und echte Begegnung zu ermöglichen.
Sind die Pflege- und Betreuungskräfte der WG ebenfalls schwul?
Ja, bei uns sind bewusst die meisten der Pflegekräfte schwul, damit sie die Lebenswelt der Betreuten verstehen und damit diese sich frei fühlen können, einfach über sich und ihre Bedürfnisse offen zu reden. Bei den weiteren geplanten WGs wird es sowohl von Seiten der Bewohner*innen als auch von Seiten des Personals gemischt sein.
Die Zukunft des Projektes
Im Frühjahr 2023 soll Ihr neues Projekt am Standort Südkreuz eröffnet werden. Was kann man sich darunter vorstellen?
Wir wollen den Lebensort Vielfalt am Südkreuz zu einem lebendigen, mehrgenerativen Ort für die LSBTI*-Community machen. Neben Beratung, diversen Wohnmöglichkeiten und einer Kita wird es dort ebenfalls eine Pflege-WG geben. Auf unserer Warteliste für die Wohnungen sind derzeit 500 Menschen. Da die Nachfrage so groß ist, planen wir auch hier in Charlottenburg einen Erweiterungsbau mit verschiedenen Wohnformen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Es geht uns nicht um Sonderrechte für bestimmte Gruppen, sondern einfach darum, dass wir alle in einer freien Gesellschaft in Vielfalt leben können. Das wünschen wir uns. Das wollen wir mit unserer Arbeit und unseren Projekten erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch!
- Das Interview stammt aus dem WIR-Magazin 1/2023 „Pflege zwischen Mangel und Möglichkeiten“
- Zur Website des Lebensort Vielfalt der Schwulenberatung Berlin
- Zum Wir-Magazin
„Ich bin froh, diesen Ort gefunden zu haben“
Lutz Germann und seine Erfahrungen über eine Pflege-WG des Lebensort Vielfalt
„Ich heiße Lutz Germann und bin 65 Jahre alt. Aufgrund meiner Behinderung nutze ich einen Rollstuhl und benötige Betreuung rund um die Uhr. Aufgewachsen bin ich in einem Kinderheim in Frohnau. Als Erwachsener lebte ich viele Jahre in einer Wohngemeinschaft der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Später wechselte ich noch einmal in eine andere Stiftungs-WG. Irgendwann war ich dort aber nicht mehr zufrieden. Ich machte mich auf die Suche nach anderen Möglichkeiten. Nun wohne ich schon seit fünf Jahren in der Pflege-Wohngemeinschaft im Lebensort Vielfalt in Charlottenburg. Ich bin froh, diesen Ort über das Internet gefunden zu haben. Hier habe ich eine 24-Stunden-Betreuung. Das Pflegepersonal ist nett, ich komme mit allen gut klar. Ich bekomme Hilfe beim Aufstehen, bei der täglichen Körperpflege, bei Toilettengängen, beim An- und Ausziehen und bei der Medikamenteneinnahme. Da ich noch halbtags arbeite –in einer Werkstatt von Mosaik – ist es wichtig, dass bei der Betreuung alles klappt. In unserer WG wohnen insgesamt acht Männer mit verschiedenen Behinderungen. Ich verstehe mich mit allen gut. Aber am besten ist, dass ich hier meinen Lebensgefährten Dieter kennen- und lieben gelernt habe. In der Freizeit gehe ich gern mit Dieter und einem Betreuer essen. Das machen wir ca. einmal pro Woche. Ich fühle mich hier einfach rundum wohl!“