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Gewalt ist nicht in Ordnung

Junge Menschen mit Behinderung über Verletzungen in ihrem Alltag

Benjamin Schröder, Tim Butke, Sebastian Vettermann, Janek Freier und Sven Kannewurf haben vieles gemeinsam: Sie sind jung, leben mit Behinderung und treffen sich regelmäßig in der Villa Donnersmarck, um zusammen ein paar entspannte Stunden zu erleben. Mit ihnen haben WIR über Mobbing und Gewalt gesprochen.

Die eigenen Erfahrungen mit Gewalt

„Als ich im April von den Morden im Potsdamer Oberlinhaus gelesen habe, ging mir das besonders nahe. Wie kann man Menschen mit Behinderung so etwas antun?“, beschreibt Benjamin seine Fassungslosigkeit. Im Oberlin Berufsbildungswerk hat er seine Ausbildung gemacht und denkt gerne an diese Zeit zurück. Als im Frühling der Name seiner einstigen Ausbildungsstätte im Zusammenhang mit vier Morden an Menschen mit Behinderung in die Schlagzeilen gerät, ist er bestürzt.

Benjamin Schröder

Auch Tim hat seine Ausbildung dort gemacht. Zusammen mit anderen Teilnehmern der Freizeitgruppe für junge Erwachsene sprechen Benjamin und Tim an einem Spätsommerabend im Garten der Villa Donnersmarck er die Morde in Potsdam und ihre eigenen Erfahrungen mit Gewalt.

Tim Butke

Sven ist schon zweimal überfallen und dabei auch getreten worden. „Ich habe mich manchmal zu sicher gefühlt und wurde vielleicht deshalb schon zweimal überfallen und ausgeraubt“, überlegt er. Zwar erstattete Sven Anzeige, aber das Verfahren wurde eingestellt. „Personen kann ich nicht gut beschreiben. Ich kann mir so etwas schlecht merken und so konnte die Polizei auch die Täter nicht finden“, sagt er.

Die Dunkelziffer gilt als enorm

Dass Svens Erlebnisse kein Einzelfall sind, zeigt ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die Zahl der Menschen mit Behinderungen, die im Gesundheitswesen Opfer einer Straftat wurden, ist laut PKS von 365 Personen im Jahr 2015 auf 555 im Jahr 2019 gestiegen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom April 2021 hervor. Strafverfahren werden oft mangels Beweisen eingestellt. Studien schätzen das Risiko von Gewalterfahrungen bei Menschen mit Beeinträchtigung zwei- bis viermal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt ein. Allgemein gilt die Dunkelziffer als enorm.

Sven Kannewurf

Auch Sebastians Geschichte geht vermutlich zu dieser Dunkelziffer. Wer wie er Probleme hat, Abläufe genau zu schildern, hat bei einer Anzeige schlechte Karten. Weil er aber oft den anderen aus der Gruppe in der Villa Donnersmarck von seinen Erlebnissen erzählt, können Tim und Janek zusammenfassen, wie Sebastian einst auf der Straße gestürzt ist, als ihn plötzlich jemand schubste. Auch wenn Sebastian sich nicht mehr gut an die Geschichte erinnern kann, ist er sich bei einer Sache sicher: „Die mich geschubst haben, hatten einfach Spaß daran, mir weh zu tun.“

Sebastian Vettermann

Die Verletzungen sitzen tief

Mobbing von Mitschülerinnen und Mitschülern und das Weg­schauen mancher Lehrerinnen und Lehrer kennen viele. Wie tief Verletzungen reichen, wenn Behinderung mit im Spiel ist, zeigt das Beispiel Schule. „Beschimpfungen wie ‚Du Spasti, bist du behindert‘ oder ‚Du Krüppel, lauf mal richtig‘ habe ich ständig in meiner Schulzeit gehört“, erzählt Janek. „Ich erinnere mich noch genau, dass ich von meinen Klassenkameraden gemobbt wurde, weil ich aufgrund meiner Behinderung eine Sportbefreiung hatte“, ergänzt Sven. Nicht nur der Sportunterricht wurde für Sven zunehmend zur Tortur. Der Konflikt mit Mitschülern und Mitschülerinnen setzte sich auch nach dem Unterricht fort. „Ich bin oft als letzter nach dem Unterricht losgerannt, um ja keine Mitschüler auf dem Weg zu treffen“, schildert er. „Aber ich hatte mich nicht getraut, mit den Lehrern darüber zu sprechen.“ Bis zur zehnten Klasse hielt er durch. Dann brach er die Schule ab und kam für ein halbes Jahr in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Manchmal denke ich, wenn meine Schulzeit anders verlaufen wäre, hätte das alles verhindert werden können.“

„Menschen mit Behinderung müssten heute doch selbstverständlich in die Gesellschaft eingebunden sein.“

Janek

Janek hingegen ging eigentlich gerne zur Schule. Doch inklusives Lernen und Nachteilsausgleiche waren während seiner Schulzeit noch unbekannt. „Zuhause hatte ich für Klassenarbeiten geübt wie verrückt, denn ich brauche für diese Tests einfach mehr Zeit“, erzählt er. „Oft hatten mir die Lehrer die Klassenarbeit am Ende der Stunde aus der Hand gerissen, obwohl ich noch geschrieben hatte. Das war ihnen egal. Heu­te, wo ich älter bin und darüber nachdenke, was ich mir alles in der Schulzeit damals anhören musste, empfinde ich das schon als Gewalt“, erlegt Janek.

Janek Freier

Noch einige dieser Geschichten kannten die fünf jungen Männer erzählen. Doch für den Nachmittag reicht es ihnen. Dass Gewalt und Mobbing Teil ihres Alltags mit Behinderung ist, da sind sich die fünf sicher. Auch ist es den fünf wichtig, Gewalt und Mobbing nicht einfach hinzunehmen, bloß weil sie mit Behinderung leben. Sie möchten sich weiter gemeinsam in ihrer Gruppe in der Villa Donnersmarck er diese und weitere Erfahrungen austauschen. „Menschen mit Behinderung müssten heute doch selbstverständlich in die Gesellschaft eingebunden sein, Gewalt ist nicht Ordnung“, fasst Janek zusammen und alle nicken zustimmend.

Ursula Rebenstorf & Kathrin Schmidt

Dieser Artikel erschien unsprünglich im Wir-Magazin 2/2021.