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Podcast WirSprechen: Umgang mit Gewalt in Organisationen

Herzlich willkommen zum Interviewpodcast WirSprechen des Wir-Magazins. Unser Anspruch ist es, unmittelbar, authentisch und auf Augenhöhe über Leben mit Behinderung zu berichten. Das tut in der sechsten Folge der Staffel zwei Dr. Sebastian Weinert. Der Historiker und Referent für Öffentlichkeitsarbeit der Fürst Donnersmarck-Stiftung verantwortet nicht nur das Archiv der Fürst Donnersmarck-Stiftung und kennt die Akten des ehemaligen Heims für Kinder mit Behinderungen im Fürst Donnersmarck-Hauses. Er beschäftigt sich auch intensiv mit der Debatte um Gewalt an Menschen mit Behinderung, die im April 2021 mit den Morden im Potsdamer Oberlinhaus eine traurige Aktualität erfahren hat, und damit, wie sich Organisationen der Behindertenhilfe mit strukturellen Fragen über Gewaltvorkommnissen in den eigenen Einrichtungen befassen, zwingend befassen müssen.

Interview mit Dr. Sebastian Weinert

Die zweite Staffel unseres Podcast WirSprechen blickt auf Menschen mit Behinderung und ihre Gewalterfahrungen. Passend zur aktuellen Ausgabe des WIR-Magazins 2021/2 „Berichte aus dem Schatten – über Gewalt reden“ gehen wir in sechs Folgen Gewalt- und Unrechtserfahrungen von Menschen mit Behinderung nach. Auch die fachliche Perspektive, die sich mit einzelnen Themen zu Gewalt beschäftigt hat, kommt hier zu Wort.

„Das müssen wir uns als Organisation immer wieder bewusst sein!“

Wo steht die Debatte über Gewalt an Menschen mit Behinderung? Wie wird sie in Einrichtungen der Behindertenhilfe geführt, zu denen auch die Fürst Donnersmarck-Stiftung zählt? Wie kann Gewaltschutz aussehen und was braucht es, um sich die Gefahren für gewaltsames Handeln auch in einem eng getakteten Pflegealltag bewusst zu machen? Ferner: Was können Einrichtungen der Behindertenhilfe tun, wenn sie in ihrer eigenen Institutionsgeschichte Gewaltvorkommnisse vermuten oder gar von ihnen wissen? Dr. Sebastian Weinert formuliert in der sechsten und letzten Folge der zweiten Staffel ein Fazit ein Jahr nach den Morden in Potsdam 2021.

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Das Transkript zur Folge „Organisationen und ihr Umgang mit Gewalt“

Herzlich willkommen zu WIRsprechen und zu der letzten Folge zum Thema „Berichte aus dem Schatten – Über Gewalt reden“. Heute ziehen wir ein Fazit: Wo steht die Debatte über Gewalt an Menschen mit Behinderung, wie wird sie in Einrichtungen der Behindertenhilfe geführt, zu denen auch die Fürst Donnersmarck-Stiftung zählt? Wie kann Präventivschutz aussehen und was braucht es, um sich die Gefahren für gewaltsames Handeln auch in einem eng getakteten Pflegealltag bewusst zu machen? Und was können Einrichtungen der Behindertenhilfe tun, wenn sie in ihrer eigenen Institutionsgeschichte Gewaltvorkommnisse vermuten oder gar von ihnen wissen? Keine leichte Fragen und bestimmt keine leichten Antworten.  Umso mehr freue ich mich, dass ich zusammen mit Dr. Sebastian Weinert, Historiker, Chef der Öffentlichkeitsarbeit der Fürst Donnersmarck-Stiftung und mein Kollege, der mit mir zusammen das Magazin verantwortet, diese Themen in den nächsten 25 Minuten sortieren kann.

Hallo Sebastian

Sebastian Weinert Hallo Ursula.

Ja, das ist eine Premiere heute. Wir versuchen unser Glück. Ich habe  eine Menge Fragen, die im Erstellen von dem Magazin selber auch aufgetaucht sind und worüber wir noch nie richtig Zeit hatten, zu sprechen. Und das tun wir nämlich heute.

Sebastian Weinert Da bin ich mal gespannt.

Die Debatte um Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, die ist ja im letzten Jahr mit sehr großer medialer Aufmerksamkeit geführt worden. Natürlich dann im April selber, als die Morde geschehen sind. Und dann auch noch mal natürlich im November, Dezember, als der Prozess dann war. Zwischendurch war eigentlich relativ wenig zu hören und zu sehen. Das war der Zeitpunkt, wo wir das Magazin erstellt haben. Wie hast du diese Debatte erlebt? Weil sie ist ja sehr kontrovers geführt worden. Wie ordnest du dann auch die Entscheidung ein, dass wir im Mai letzten Jahres  gesagt haben: Okay, wir machen jetzt eine Ausgabe mit dem Titel „Berichte aus dem Schatten – über Gewalt reden?

Sebastian Weinert Das ist eine gute Frage. Ich habe die Debatte über Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung gerade zu Beginn dieser Ereignisse als sehr emotional und sehr, sehr intensiv wahrgenommen. Und gerade am Anfang war ja auch das mediale Interesse an diesen Ereignissen extrem groß und es sind auch in schneller Folge Artikel und Beiträge über strukturelle Fragen erschienen. Allerdings ist das öffentliche Interesse an diesem Thema aus meiner Sicht ganz schnell wieder abgeebbt und es ist einigen Aktivist:Innen zu verdanken, dass es dann doch noch etwas länger an der Oberfläche gehoben wurde, länger auch auf strukturelle Fragen hingewiesen wurde und dann aber ab einem gewissen Punkt natürlich auch aufgrund der Ereignisse, die zum Beispiel im Kontext der Corona-Pandemie noch passiert sind, dann wieder von der Bildfläche verschwanden. So in meiner Wahrnehmung auch mit dem Prozess. Das ist ja häufig so, dass das zweite, der zweite Piek einer Beschäftigung mit einem Thema nicht mehr richtig hochgekommen ist. Für mich oder für uns als Stiftung war es glaube ich trotzdem wichtig, mit dem WIR- Magazin uns auch mit dem Thema Gewalt gegen Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Weil ich glaube, unabhängig von diesen Ereignissen, die da in Potsdam passiert sind, sind alle Einrichtungen aufgerufen, sich mit den strukturellen Fragen, die in jeder Form von Betreuung inhärent sind, ob das nun von Menschen mit Behinderung ist oder ob das vielleicht auch Kinder und Jugendliche ist oder ob es vielleicht in psychiatrischen Einrichtungen ist. Dort gibt es immer strukturelle Fragen, die potenziell gewaltförmig sein können oder potenziell gewaltförmiges Handeln ermöglichen. Und ich glaube, dass alle Einrichtungen gut beraten sind, sich immer und immer wieder mit diesem Thema zu beschäftigen. Und deswegen war es auch für mich persönlich ein wichtiges Thema, dass wir in dem WIR-Magazin aufgreifen sollten.

Das WIR-Magazin ist ja, es wird ja herausgegeben von einer Institution, die stellvertretend für Institutionen ist, wo dieser Vorwurf von Teilen der Aktivist:Innen dann auch geführt worden ist, dass jede Institution, wo auch stationäre Unterbringung von Menschen mit Behinderung ist, per se ein Gewaltproblem, ein Gewaltpotenzial in sich tragen. Und wir haben als Magazin beschlossen, uns mit dieser Debatte auseinanderzusetzen und verschiedenen Fragen nachzugehen.

Sebastian Weinert Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass stationäre Unterbringung per se Gewalt ist. Ich glaube, dass stationäre Unterbringung möglich ist und dass man sie auch menschenrechtlich und den Menschen adäquat und angemessen gestalten kann. Dafür braucht es aber auch bestimmte strukturelle Voraussetzung und Personalausstattung. Die Größe der Einrichtungen darf nicht so groß sein. Bestimmte räumliche Bedingungen müssen gegeben sein und so weiter und so weiter. Da gibt es eine ganze Latte von strukturellen Fragen. Wenn das gegeben ist, dann empfinde ich das aber natürlich auch aus einer Perspektive, die nicht einer betroffenen Perspektive ist, nicht als Gewalt. Allerdings haben stationäre Einrichtungen aber grundsätzlich auch Betreuungskontexte immer wieder Aspekte und stehen immer wieder vor der Herausforderung, dass sie funktionieren müssen. Pflege muss funktionieren. Das heißt, die Pflegekräfte und Pflegefachkräfte müssen funktionieren, aber natürlich müssen in einer gewissen Art und Weise, so hart das klingt, auch die betroffenen Menschen funktionieren. Es gibt eine Taktung, es gibt eine Eingrenzung des individuellen Gestaltungsspielraumes, die ich in meinem privaten Leben so nicht habe. Das müssen wir uns als Organisation immer wieder bewusst sein. Und das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen und auch demütig sein diesen Begrenzungen und Einschränkungen gegenüber. Und was hilft, ist, die Menschen, die davon betroffen sind, tatsächlich in den Blick zu nehmen und sie auch sprechen zu lassen. Das ist, finde ich, die Besonderheit des WIR-Magazins, ganz grundsätzlich, aber eben auch in dieser Diskussion, dass es eben Menschen waren, die sonst keinen Zugang zur Öffentlichkeit haben, die mit uns gesprochen haben und die bei uns eine Öffentlichkeit bekommen haben. Ob es nun die Jugendlichen sind, die sich in der Villa Donnersmarck treffen und von ihren Gewalterfahrungen sprechen, ob das Uschi Lehmann ist, die über ihre Erfahrungen in einer Einrichtung in den 60ern und 70ern war es, glaube ich, gesprochen hat. Das sind Menschen, die sonst keinen Zugang zur Öffentlichkeit haben und die auch in der medialen Debatte nicht so vorkommen, weil sie vielleicht auch in ihrem Auftreten nicht so medienkonform sind. Und dass es eben auch diese Form der diese Logik der Medien eben nicht dieser medialen Verwertungslogik, vielleicht der gleichen Art und Weise entsprochen haben, wie das andere tun.

Im letzten Jahr, zufälligerweise fast parallel, fand die Abschlussarbeit zu einer Forschungsstudie statt, die von der Stiftung Anerkennung und Hilfe in Auftrag gegeben worden ist. Und diese Studie hat sich anhand von ausgewählten Einrichtungen diese strukturellen Voraussetzungen, von denen du auch gesprochen hast, von der Behindertenhilfe für einen ganz langen Zeitraum angeguckt, und zwar von 1949, also eigentlich im Grunde bis heute und hat das vor allem erstmalig dann auch im deutsch-deutschen Vergleich dann auch gemacht. Und in der letzten Folge von dem Podcast hatten wir das Interview, was wir mit dem Leiter dieser Studie, mit Prof. Heiner Fangerau geführt haben, aufgezeichnet und haben das entsprechend für den Podcast aufbereitet. Der beschreibt im Grunde, was für Akten er vorgefunden hat und wie sie letztendlich ein Puzzle an diesen ausgewählten 17 Einrichtungen erstellt haben, um ein Bild zu zeichnen, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Zeit gewesen sind. Auch die Fürst Donnersmarck-Stiftung hat in den 60er und 70er-Jahren, da kannst du wahrscheinlich gleich mehr dazu sagen, ein Heim für Kinder mit Behinderung geleitet. Und du verantwortet ja auch als Chef der Öffentlichkeitsarbeit das Archiv der Stiftung. Du kennst die Akten und hast die ja auch von dem Kinderheim angeguckt. Was hast du da finden können?

Sebastian Weinert Also zunächst mal ist glaube ich das Fürst Donnersmarck -Haus insofern eine Besonderheit ist, als dass es sich strukturell ein bisschen von den Einrichtungen unterscheidet, die Prof. Fangerau und das ganze Forschungsteam untersucht hat, in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es eben erst 1964 gegründet worden, beziehungsweise 63 und 64 von der Stiftung übernommen worden. Und dann diese Phase der Mangelverwaltung, die Herr Fangerau auch in dem letzten Podcast so eindrücklich beschrieben hat. Die ist dann schon in einer gewissen Art und Weise vorbei. Das heißt, da gibt es eine andere strukturelle Herausforderung oder andere strukturelle Voraussetzungen. Auch war der Personalschlüssel in dem Haus ein ganz anderer als normalerweise. Das hatte sicherlich auch mit der Lage in West-Berlin zu tun, wo die Behindertenhilfe insgesamt in den 60er und 70er Jahren einfach vor allem in den Siebzigern, aber auch schon in den 60ern, besser ausgestattet war, zumindest in meiner Wahrnehmung als in anderen Teilen Westdeutschlands und der Bundesrepublik. Der andere strukturelle Unterschied ist, dass wir in dem Kinderheim bis 1979 nur 50 Plätze hatten. Noch 1979 sind wir dann auf 130 Plätze ungefähr angewachsen. Und das ist natürlich eine Größe, die im Vergleich zu den Einrichtungen in Westdeutschland, die da gebaut wurden, wo es dann 1000 Betten gab, wo es wirklich absolute Großeinrichtungen, große Komplexe waren, wirklich noch mal sehr viel kleiner und überschaubarer gewesen sind.

Wo vor allen Dingen auch Betreuungskräfte und Pflegekräfte auch für einen viel, viel größeren Anteil von Kindern auch zuständig waren wahrscheinlich als jetzt in dem Heim. Der Betreuungschlüssel war wahrscheinlich ein anderer?

Sebastian Weinert  Ich kenne den Betreuungsschlüssel jetzt von anderen westdeuschen Einrichtungen nicht, aber im Fürst Donnersmarck-Haus war der zeitweise eins zu eins, wenn man zumindest auch Hauswirtschaftskräfte zum Beispiel mitgerechnet hat. Das ist glaube ich ein struktureller Unterschied, den man irgendwie mitbedenken muss, in den, wenn man diese Einrichtung miteinander vergleicht, in den Akten, die ich kenne, habe ich keine Hinweise für strukturelle Gewalt entdeckt oder finden können, die jetzt in diesen, also wie sie in dieser Studie beschrieben werden, die wirklich dramatische Zustände und erschreckendste Zustände.

Ja, oder wo auch Codes verwendet worden sind, die letztendlich eigentlich für Gewalthandlungen stehen.

Sebastian Weinert Es gab Fälle von sexualisierten Grenzverletzungen und auch von anderen Formen von Grenzverletzungen, die auch in den Akten aufgetaucht sind. Es ist auch so, dass wir schon eine auch schon Anfragen von der Stiftung Anerkennung und Hilfe hatten. Die Fälle, die ich kenne, waren dann aber immer so, dass die Organisation als Organisation sich, wenn man es so will, richtig verhalten hat, die Betroffenen unterstützt hat, die entsprechenden Mitarbeitenden entlassen hat, Vorkehrungen getroffen hat. Insofern sind diese drastischen Schilderungen, ich habe mal eine Zusammenfassung der Ergebnisse gerade gelesen, als diese Ereignisse im Oberlin Haus waren und das ist wirklich außerordentlich bedrückend, die habe ich so nicht wiederfinden können. Gleichwohl müssen wir uns einfach auch natürlich immer anerkennen: es war eine stationäre Einrichtung und es wird dort auch Menschen gegeben haben, die dort ein Leben hatten, dass sie sich so nicht gewünscht haben und die vielleicht auch Formen von Gewalt erlebt haben.

Jetzt ist es natürlich jetzt unter dieser unter diesen Voraussetzungen in Anführungsstrichen etwas leicht, anderen Einrichtungen einen Rat zu geben. Aber Prof. Fangerau hat ja in dem Interview auch sehr eindrücklich beschrieben, dass es wichtig ist, diese blinden Flecken, sofern sie da sind, aufzuarbeiten under hat auch nur exemplarisch 17 Einrichtungen untersucht. Das ist so stichprobenartig. Und er weiß und das hat er auch gesagt, da gibt es noch viel mehr. Und wenn jetzt Einrichtungen selber auch anfangen, ihre Archiv-Keller zu steigen und zu gucken, was, was haben wir eigentlich? Wie sieht die Aktenlage aus? Was gibt es vielleicht auch für Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern etc.? Wie würdest du, was würdest du empfehlen? Was sollten Einrichtungen machen, um zu gucken, ja, auch wir hatten stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und wir müssen das jetzt mal aufarbeiten. So eine gewaltige Aufgabe, die ja nicht ganz leicht ist, weil man ist ja auch befangen als Institution.

Sebastian Weinert Also ich glaube, der wichtigste Schritt ist erst mal tatsächlich anzuerkennen, dass die eigene Geschichte wichtig ist und dass es, wenn man in die Geschichte schaut, immer auch Grautöne gibt. Das ist bei jeder Einrichtung so. Das muss man, glaube ich, anerkennen. Man muss das glaube ich, auch wenn sich das schief anhört, als ein Wert begreifen. Und dass es wichtig ist, diese Materialien zu sichern, sie aufzubewahren und sie auch anzuschauen. Das zweite, was man sich vor Augen führen muss, ist, wir Historiker sagen ja manchmal, die Dinge sind so auf uns gekommen. Und wenn wir uns mit Zeitzeugen unterhalten, auch mit ehemaligen Bewohner:Innen, dann müssen wir uns auch bewusst sein, dass wir noch Kontakt zu den Menschen haben, die uns in guter Erinnerung haben. Die Menschen, die uns nicht in guter Erinnerung haben, mit denen werden wir in der Regel keinen Kontakt mehr haben. Das heißt, es gibt einen Bias, den man, den man wissen muss, wenn man, wenn man sich damit beschäftigt, bewertungsfrei, aber das ist, glaube ich, etwas, worüber man sich bewusst sein muss. Und der dritte Punkt: wir hatten ja nun diesen Anlass, ich habe ja die Geschichte der Stiftung geschrieben im Kontext des 100-jährigen Jubiläums. Das heißt, wir hatten einen ganz klaren Ansatz und einen ganz klaren Anlass. Und es hat bei uns glaube ich, auch ganz gut funktioniert, weil ich noch mal von außen gekommen bin und dadurch noch mal einen anderen Blick hatte. Ich bin extra für diese Stiftungsgeschichte eingestellt worden. Ich war zwar vorher als Student da, aber war eine Zeit lang weg und bin zum Schreiben der Gechichte eingestellt worden. Wenn ich das entscheiden würde, würde ich die Aufarbeitung insbesondere von solchen Gewalthandeln, aber wahrscheinlich auch von Institutionsgeschichten generell extern vergeben. Ich würde mir Partnerinnen und Partner aus der historischen Forschung suchen, wie es eben auch bei diesem Projekt gewesen ist und würde mit denen zusammen die Geschichte aufarbeiten. Das kann natürlich auch dann sehr schmerzhaft sein, aber wenn ich es möchte und wenn ich mich damit ernsthaft beschäftigen möchte, dann ist der externe, unbefangene und nicht in institutionelle Verhältnisse eingebundene Blick der, den ich befürworten würde und der in meiner Wahrnehmung, aber auch dann in der historischen Forschung und in der historischen Community und in der Community der Historiker die größere Anerkennung und die bessere Resonanz erzielen wird. Das ist natürlich auch mit finanziellen Mitteln verbunden und es gibt natürlich Einrichtungen, für die das schwieriger zu finanzieren sein wird. Auch da würde ich dann überlegen, ob man andere Kooperationen machen kann. Und wenn es zum Beispiel ein Praxisprojekt mit Studierenden ist, das kann ja auch neue Einblicke geben, aber es bringt auf jeden Fall einen externen Blick. Das wäre glaube ich der richtige Weg.

Also du meinst, der Einwand das ist eine Kostenfrage oder eine Ressourcenfrage muss nicht gegeben sein, weil man zum Beispiel auf dieses Beispiel zurückgreifen kann, was du genannt hast, dass man es auch an gute motivierte Studierende nach außen gibt und einfach mal schaut, was das für eine Grundlage hat.

Sebastian Weinert  Ich glaube, den Ressourcenaufwand darf man nicht unterschätzen, auch wenn man zum Beispiel ein Archiv einrichtet. Das ist ressourcenintensiv und das muss man wollen. Aber wenn es aus bestimmten Gründen nicht geht, dann glaube ich, kann man auch noch mal darüber nachdenken, was es für alternative Wege gibt. Und Kooperationen mit Studierenden kann ein Weg sein. Es kann auch ein Weg sein, das wäre was, wenn ich nochmal so ein Projekt machen, glaube ich, gerne tun würde, ist, die Betroffenen selbst mit einzubeziehen, ein partizipatives Projekt machen, wirklich auch Menschen mit Behinderung dazu zu befähigen, das eigene Projekt, die eigene Geschichte zu schreiben. Das sind dann vielleicht auch andere Geschichten, weil sie an andere Dinge interessiert. Aber das wäre ein Anspruch, den ich an mich noch mal hätte und den ich, wo ich glaube, dass das Institutionen sehr viel von lernen können.

Wenn ich jetzt den Blick nach heute richte, Stichwort Gealtschutzkonzepte, die Fürst Donnersmarck-Stiftung hat auch ein Gewaltschutzkonzept, wir hatten in einer der Folgen von dem Podcast, da habe ich mit Mirjam Mirwald darüber gesprochen, die maßgeblich an der Erstellung und Durchführung des Konzepts und seiner Schulung beteiligt war. Du als Chef der Öffentlichkeitsarbeit warst auch daran beteiligt. Welche Beobachtungen hast du während dieses Prozesses gemacht?

Sebastian Weinert  Ich bin da sehr spät eingestiegen, als eigentlich das Konzept geschrieben war und es dann nur noch darum ging, ein paar redaktionelle Dinge zu verändern, Rechtschreibfehler  rauszuschmeißen und die Formatierung klar zu ziehen. Und dann im Kontext, dieses Schutzkonzept ist ja nie fertig, sondern es ist ja ein lebendes Dokument, sondern es bzw. es muss zu einer gelebten Kultur werden. Und im Anschluss daran bin ich mit der Kommunikation innerhalb der Organisation beschäftigt gewesen. Ich glaube, dass die, das wird ja immer wieder auch in diesen Konzepten beschrieben, dass es wichtig ist, immer wieder den Scheinwerfer auf dieses Thema zu halten. Jetzt kann man sich nicht täglich mit sexualisierter Gewalt beschäftigen und täglich darüber nachdenken, in tägliche Fokusrunden gehen. Aber dieses Thema sexualisierte Gewalt oder sexualisierte Grenzüberschreitungen oder auch andere Gewaltsituationen in einer Organisation, die müssen immer wieder im Bewusstsein sein. Ich hatte ganz am Anfang gesagt, es gibt so eine, ich weiß gar nicht, wie ich das bezeichnen soll, so eine Macht des Alltags, einen Drang dazu, dass Dinge funktionieren müssen. Und da gibt es einfach die Gefahr, dass solche Themen runterrutschen. Und das ist natürlich dann ein Raum, wo Gewalthandlungen passieren können. Und deswegen ist es, glaube ich, unheimlich wichtig, dieses Thema immer wieder auf das Trapez zu bringen, dass die Mitarbeitenden es wissen, aber auch, dass die Menschen davon wissen, die bei uns betreut werden, die bei uns rehabilitiert werden, die bei uns Gäste sind. Es braucht das Wissen von beiden, damit so ein Konzept funktionieren kann und dass es dabei helfen kann, gewaltförmiges Handeln so gut es geht zu vermeiden. Ganz verhindern wird man das, glaube ich nicht.

Also das, was du gesagt hast, die Macht des Alltags, das kann man sich ganz gut vorstellen, weil Gewalt, wenn sie vorkommt oder wenn sie ein Problem ist, sie stört, sie stört Abläufe, sie stört den Alltag, dann ist es auch schambehaftet. Es ist auch ein Tabu und es heißt, es wird dann. Dementsprechend sind auch Mechanismen da, dass man darüber auch dann nicht spricht.

Sebastian Weinert Ja, genau, aber eben auch. Das war ja auch eine der eindrücklichsten Ergebnisse dieser Studie. Gewalt sorgt auch dafür, dass der Alltag funktioniert. Das heißt, es wird mit Gewalt dazu geführt, das ist nun nicht bei uns passiert, sondern in diesen Einrichtungen, dass durch das Sedieren der Menschen sie in irgendeiner Art und Weise in einen Alltag eingepasst werden. Angepasst bitte in Anführungszeichen. Das ist ja auch genau eine Form von Gewalthandeln gewesen, das dazu geführt hat, dass Einrichtungen so handeln können, wie sie handeln und dass diese im Vorfeld geplanten Prozesse und Abläufe mit dem geplanten Personalschlüssel umgesetzt werden können. Und das führt eben auch zu diesem Gewalthandeln. Und das ist kein besseres, aber ein vielleicht anderes Gewalthandeln als das, was man in dieser schwarzen Pädagogik zum Beispiel immer mal wieder erlebt hat oder eben bei sexualisierter Gewalt.

Zum Schluss möchte ich ganz gerne mal einen Ausblick geben. Die erste Folge, die haben wir mit den jungen Menschen mit Behinderung aus der Freizeitgruppe der Villa Donnersmarck gemacht, die über Mobbing und eigene Gewalterfahrungen in ihrem Leben berichtet haben. Und damit würde ich auch ganz gerne auch enden. Es sind ja einige Monate ins Land gezogen und was ich mittlerweile von der Gruppe berichtet bekommen habe, ist, dass das ein Anstoß war, als sie den Podcast gemacht haben mit mir, über dieses Thema und über andere Themen, wo sie nicht so gerne reden, die aber ganz wichtig für Sie sind, anfangen zu reden. Also jetzt ist es keine therapeutische Gesprächsrunde geworden, aber das sind junge Leute, die sich eigentlich zu Freizeit treffen und gesagt haben, diese Themen gehören damit rein. Die brauchen einen gewissen Raum. Und das finde ich eigentlich ein sehr schönes Ergebnis. Also dass man da einen Impuls setzen konnte. Und was meinst du, was Einrichtungen für Klientinnen und Klienten oder mit Gästen, die zu Freizeiteinrichtungen kommen, inweifern man da auch wirklich Impulse setzen kann, dass diese Themen und diese Probleme auch Raum haben, dass diese Menschen mit diesen Themen auch willkommen sind?

Sebastian Weinert  Man muss das vielleicht unterscheiden zwischen Betreuungseinrichtungen und Einrichtungen wie unsere Villa Donnersmarck, wo wir Gäste haben, die von uns nicht betreut werden oder vielleicht auch unsere Hotels. In den Betreuungseinrichtungen ist es wichtig, bestimmte Themen immer mal wieder anzusprechen und auch für eine gewisse Kompetenz im Umgang mit diesen Themen zu sorgen. Das gibt es ja aus dem Kontext sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern. diese Erkenntnis, dass Kinder erst mal sprechfähig sein müssen, um mitteilen zu können, dass sie an bestimmten Körperstellen angefasst wurden. Und das muss erst mal als ein, auch wenn sie das so spüren, aber sie müssen sprechfähig sein, das mitteilen zu können, also diese sexualisierte, die erfahrene sexualisierte Gewalt auch darüber kommunizieren zu können. Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Bezogen auf Menschen mit Behinderung geht es auch um sexualisierte Gewalt. Es geht auch um den eigenen Körper. Aber es geht eben auch um so ein Bewusstsein, Rechte zu haben, ein Recht auf Teilhabe zu haben, ein Recht auf Privatsphäre zu haben, ein Recht auf Selbstbestimmung zu haben. Das sind solche großen Worte, und das müssen auch immer und immer wieder übersetzt werden. Übrigens auch nicht nur gegenüber den Menschen mit Behinderung. Es ist auch ein Fehler, immer zu glauben. Nur die sind diejenigen, die was lernen müssen, sondern auch gegenüber den Mitarbeitenden. Und ich nehme mich selbst da überhaupt nicht aus. Einfach zu verstehen, was heißt das dann? Was ist denn Selbstbestimmung zum Beispiel? In den letzten zwei Jahren haben wir das sehr häufig diskutiert im Kontext der Corona-Pandemie: Wo hört die Selbstbestimmung auf? Und es ist ja schon auffällig gewesen, dass wir als Gesellschaft viel weniger Schwierigkeiten damit hatten, Menschen mit Behinderungen, aber auch alte Menschen von der gesellschaftlichen Teilnahme zumindest zeitweise auszuschließen, als wir jetzt das bei anderen Themen hatten, und das wurde, glaube ich, mindestens ebenso intensiv diskutiert, ob es denn nun angemessen sei, die Fussballstadien zu leeren, wie eben die Altenheime zu schließen. Also insofern ist, das gilt es, glaube ich, in beide Richtungen. Das zweite ist aber und ich glaube, das gelingt uns an vielen Stellen sehr gut, ist eine Kultur zu schaffen, wo sich die Menschen willkommen fühlen, wo sie Vertrauen haben gegenüber demjenigen, mit dem sie oder derjenigen, mit dem sie sprechen, und dann auch diese Themen anzusprechen, die sie persönlich belasten, sie erfahren haben. Ich kann mir das gut vorstellen. Ich spreche da ja ohne eigene Betroffenheit, auch ohne Sach und Fachverstand. Das ist einfach eine große Hürde. Ist zum Beispiel auch für die Jugendgruppen von den eigenen, ja zum Teil auch verletzenden Erfahrungen zu sprechen. Und da gehört auch unheimlich viel Vertrauen dazu. Und das müssen wir, glaube ich, immer wieder versuchen. In dem Alltag und in dem Umgang vielleicht mit den kleinen Makeln oder den kleinen Fehlern und den kleinen Schwierigkeiten, die wir haben, so gut umzugehen, dass die Menschen auch das Vertrauen haben, mit den großen Themen auf uns zuzukommen. Und wenn uns das gelingt und ch glaube, es gelingt uns häufig, aber es gelingt uns sicherlich nicht immer. Dann ist schon wahnsinnig viel erreicht.

Ich würde sagen, da ziehen wir jetzt erst mal einen Schlussstrich. Diese Debatte, die wird uns noch weiter begleiten. Und was wir wahrscheinlich selber auch nicht so unbedingt am Anfang gewusst haben, ist, wie viel da eigentlich drinsteckt und wie sich das auch weiter verflechtet. Und dann werden wir mal schauen, ob wir dann auch in den nächsten Ausgaben von Podcasts, vom Wir-Magazin immer wieder den Blick auf dieses und andere Themen verwenden werden. Vielen Dank erst Mal soweit.

Sebastian Weinert Sehr gerne.

Alle Folgen dieser Staffel über das Thema Berichte aus dem Schatten über Gewalt reden finden sie in unserem Blog mittendrin.fdst.de/stichwort/wirsprechen/ Und in der passenden Ausgabe des WIR-Magazins finden Sie auch die Artikel zu den jeweiligen Themen.

Wir machen nun eine kleine Pause, denn wir bereiten nun die nächste Ausgabe des WIR-Magazins vor. Darin geht es um das Thema Kunst und um Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. Das Magazin erscheint Anfang Mai. Natürlich wird es dann eine weitere Podcaststaffel von WIRsprechen geben, in der wir mit Menschen über ihre Kunst sprechen. Los geht es Ende Mai.

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