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Zwei Männer, einer im Rollstuhl und einer zu Fuß, sind begleitet von einer jungen Frau in Berlin unterwegs. Alle sind gut gelaunt und lächeln.

Teilhabeforschung braucht Austausch: Interviews zur Pandemie

Gemeinsamer Austausch zu Forschungsprojekten lässt sich – auch unter schwierigen Voraussetzungen – gestalten. Das Engagement von Beforschten ist für Forschung von großer Bedeutung. Der Artikel stellt ein FDST-Projekt der Teilhabeforschung vor, zu dem ein digitaler Austausch mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnens mit Intensivbetreuung in Pankow stattfand.

Teilhabeforschung: Ergebnisse der Corona-Studie

Im Sommer 2020 führten wir mit 25 Personen aus drei Bereichen der Fürst Donnersmarck-Stiftung Interviews über die Corona-Pandemie. Es wurde darüber gesprochen, wie die Pandemie erlebt wird und wie sich unser Leben dadurch verändert hat. Bereits die Ausgabe 2/2020 des Wir-Magazins berichtete über erste Ergebnisse der Studie. Ob die Zusammenfassung der Forschenden die Sichtweise der Beforschten widerspiegelt, kann nur über einen gemeinsamen Austausch erfahren werden. Im Frühjahr 2021 haben wir uns gemeinsam mit den Menschen des Wohnens mit Intensivbetreuung (WmI) in Pankow online dazu ausgetauscht. Fünf der am Interview beteiligten Personen leben dort. Das WmI ist eine ambulante Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderungen, die einen hohen Assistenzbedarf haben. Ziel des Angebotes ist es, ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Teilhabe zu sichern. Dabei unterstützen verschiedene individuelle Assistenz- und Pflegeleistungen den Alltag.

Per Zoomschaltung in die Gemeinschaftsküche

Der erfolgreiche digitale Austausch war nur durch die Unterstützung der Mitarbeitenden vor Ort möglich. Diese haben den Austausch durch Moderation, Hintergrundinformationen zu den aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen im Haus
und Teilen der eignen Wahrnehmung der letzten Monate unterstützt. Der Austausch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern fand zeitgleich auf zwei Wohnetagen in den Gemeinschaftsküchen über Zoom (Software zur Videotelefonie/Videokonferenz) statt. Themen waren die Ergebnisse der Corona-Studie vom Sommer 2020, das aktuelle Befinden und die Herausforderungen aufgrund von Corona.

Vor allem die wenigen sozialen Kontakte stellen weiterhin eine große Belastung dar. Aufgrund von Besuchsregeln im WmI können Treffen mit anderen nur eingeschränkt stattfinden. Gestaltungsmöglichkeiten werden vermisst, z. B. etwas unternehmen zu können, überhaupt gemeinsame Aktivitäten wie Kultur oder der Stammtisch. Außerdem finden die Bewohnerinnen und Bewohner, dass es Menschen in Wohneinrichtungen durch ihren Unterstützungsbedarf schwerer haben. Oder weil Regeln in der Wohneinrichtung gelten, die für andere Personen außerhalb jedoch nicht gelten. Die Bewohnerinnen und Bewohner gehen unterschiedlich damit um. Einige sind frustriert, andere sagen, sie haben sich an die neuen Regeln gewöhnt. Ein Thema, welches zum Zeitpunkt der Interviews im Sommer 2020 wenig bedeutsam war, ist das Impfen. Dieses Thema löst aktuell gemischte Gefühle aus. Einerseits gibt die Impfung Hoffnung auf ein normales Leben. Auf der anderen Seite wird bezweifelt, inwieweit eine eigene Entscheidung getroffen werden kann und sich Personen auch ohne negative Konsequenzen gegen eine Impfung entscheiden können. Was würde es heißen, nicht geimpft zu sein und die restlichen Bewohnerinnen und Bewohner sind geimpft? Werde ich dann ausgeschlossen?

Forschungsergebnisse müssen öfter zurückgespielt werden

Der Austausch zeigt, dass viele Themen, die im Sommer 2020 in den Interviews besprochen wurden, weiterhin wichtig sind und die Corona-Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen die Teilhabe von Menschen mit Behinderung einschränken. Auch wenn alle zusammen halten, die im WmI wohnen und arbeiten, um die Situation so angenehm wie möglich zu gestalten.

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewerteten den gemeinsamen Austausch positiv. Für die Forscherinnen war es interessant zu hören, was sich seit dem Sommer 2020 verändert hat. Für die Mitarbeitenden war es schön zu sehen, dass ein Input von außen und der Austausch zwischen den Wohngemeinschaften anregend für die Menschen war, die im WmI leben. Den Bewohnerinnen und Bewohnerr war es wichtig, dass sie von den Forschungsergebnissen erfahren haben und weiter einbezogen wurden. Sie unterstützen häufig Forschungsprojekte, aber selten werden Ergebnisse zurückgespielt oder gemeinsam besprochen. Das muss sich ändern!

Mitarbeitende und Klientinnen und Klienten des WmI in Berlin-Pankow vor dem Gebäude der alten Mälzerei.

Teilhabeforschung gemeinsam gestalten

Der Austausch zur Interviewstudie zum Thema Corona war ein erster Schritt auf dem Weg, Forschung gemeinsam zu gestalten. Warum ist das wichtig? Gemeinsam forschen stellt sicher, dass Themen untersucht werden, die für Menschen mit Behinderungen wichtig sind. Dies fordert die Behindertenbewegung seit den 80er Jahren unter dem Slogan Nichts über uns ohne uns. Ein Ansatz, der die Zusammenarbeit dabei in den Vordergrund stellt, ist die partizipative Forschung. Es geht darum, Menschen mit Behinderungen aktiv in den Forschungsprozess einzubeziehen und gemeinsam zu entscheiden, zu welchen Themen geforscht wird, welche Ergebnisse wichtig sind und wie die Ergebnisse interpretiert werden. Damit werden die Rollen in Forschungsprojekten, wie wir sie kennen, auf den Kopf gestellt. Häufig erleben wir, dass nur die Forscherinnen und Forscher entscheiden, welche Themen wichtig sind, welche Fragen gestellt werden und was aus den Antworten gelernt werden kann. Bei der partizipativen Forschung sind es die Expertinnen und Experten in eigener Sache, die beschreiben und erklären, was ihnen wichtig ist. Partizipative Forschung umzusetzen, ist ein Prozess, der Zeit und Erfahrung braucht. Alle Beteiligten müssen sich in neue Rollen einfinden und lernen ihre Sicht auf die Welt zu teilen.

Dass Expertinnen und Experten in eigener Sache in Forschung einbezogen werden, ist eine wichtige Grundlage für gute Forschung. Der Aufbau von partizipativen Strukturen braucht aber Zeit und Ressourcen. Der gemeinsame Austausch hat uns gezeigt, es ist auch dann möglich, wenn die Wege für alle Beteiligten neu sind. Da der Austausch für alle so interessant war, haben wir uns zu einem gemeinsamen Kaffee im Sonnenschein verabredet, sobald es möglich ist. Wir freuen uns darauf, uns ohne digitale Unterstützung auszutauschen. Wir danken allen Beteiligten recht herzlich für ihr Engagement.

Artikel von: Maja Wiest, Mareike Schrader, Mirjam Mirwald, Annette Sterr

Dieser Artikel erschien ursprünglich im Wir-Magazin 01/2021.