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Schwarz-Weiß-Foto: Nahaufnahme eines Auges.

Stiftung Anerkennung und Hilfe: Unrecht sichtbar machen

Die Anmeldefrist für die Stiftung Anerkennung und Hilfe wurde noch einmal verlängert und endet am 30. Juni 2021. Wir haben diese Verlängerung zum Anlass genommen und mit zwei Beraterinnen über ihre Arbeit gesprochen.

Vorab zur Stiftung Anerkennung und Hilfe

Die Stiftung Anerkennung und Hilfe wurde am 01. Januar 2017 von Bund und Ländern gegründet, um ein Hilfesystem zu errichten. Sie richtet sich an Menschen, die als Kinder und Jugendliche – zwischen Mai 1949 und Dezember 1975 in der BRD oder von Oktober 1949 bis Oktober 1990 in der DDR – psychische, physische und sexuelle Gewalt oder andere Formen von Leid und Unrecht in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen erfahren haben. Die Aufgaben der Stiftung sind die öffentliche Anerkennung der Taten, die Anerkennung durch eine wissenschaftliche Aufarbeitung und individuelle Anerkennung durch finanzielle Hilfe.

Die Beratungsarbeit der Stiftung Anerkennung und Hilfe

Stellen Sie sich doch beide kurz vor und verraten den Leserinnen und Lesern, was Sie bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe machen.

Jutta Seubert: Ich bin Jutta Seubert. Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite seit 1998 bei der Lebenshilfe Berlin. Die Lebenshilfe hat 2017 im Auftrag des Senates eine Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe eröffnet. Dort arbeite ich gemeinsam mit meiner Kollegin als Beraterin. Insgesamt gibt es in Berlin zwei Beratungsstellen, eine beim Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF), eine bei der Lebenshilfe.

Jutta Seubert
Jutta Seubert

Josefine Stockmann: Mein Name ist Josefine Stockmann. Ich arbeite seit Ende 2019 als Psychologin bei der Lebenshilfe für die Stiftung Anerkennung und Hilfe. Ich arbeite auch als Beraterin. Das umfasst viele Aspekte. Wir sind ja anders als in anderen Bundesländern nicht angegliedert an eine öffentliche Struktur, sondern an Träger, wie Frau Seubert gerade schon gesagt hat: das EJF und die Lebenshilfe.  Wir können die Räume schön gestalten und so einfach eine gemütlichere und herzlichere Atmosphäre schaffen.

Wie können denn Betroffene mit Ihnen in Kontakt treten?

Josefine Stockmann: Sie können uns anrufen, sie können eine Mail schicken, sie können ein Fax schicken oder direkt vorbeikommen. Da ist allerdings nicht immer klar, ob dann jemand von uns vor Ort ist. Die meisten melden sich per Post, rufen an oder schicken eine E-Mail.  Es gibt einen Anmeldebogen für unsere Beratungsstellen, den wir den Interessenten nach einem Vorgespräch zuschicken. In diesem Vorgespräch klären wir dann auch bereits, was die Voraussetzungen sind. Anschließend schicken die Interessenten den Anmeldebogen ausgefüllt zurück.

Josefine Stockmann

Für viele sind das ja schwierige Themen und es fällt schwer unmittelbar darüber zu sprechen. Reicht also zunächst ein formloser Antrag oder eine kurze Kontaktaufnahme?

Josefine Stockmann: Ja genau. Eine kurze Kontaktaufnahme reicht für den Anfang. Oder, wenn jemand sagt: „Oh, das traue ich mich erst mal gar nicht“, dann können die Betroffenen auch ihre gesetzlichen Betreuenden oder andere Unterstützende bei uns anrufen lassen.  Wir schicken ihnen dann den Anmeldebogen zu. Aber im Grunde ist es wirklich ganz niedrigschwellig. Das Einfachste: einfach erst einmal anrufen.

Und was passiert, wenn sich jemand bei Ihnen gemeldet und den Anmeldebogen ausgefüllt hat? Beschreiben Sie doch bitte den ganzen Prozess.

Josefine Stockmann: Nachdem wir die Anmeldungen aufgenommen haben, arbeiten wir sie üblicherweise der Reihenfolge nach ab. Manchmal ziehen wir aber auch Personen vor, die beispielsweise schon älter oder krank sind. Aber ansonsten geht alles der Reihenfolge nach. Dann fragen wir konkret nach, um welche Einrichtungen es geht und ob es von dem Aufenthalt noch Unterlagen gibt. Je nachdem, wie ausführlich der Anmeldebogen ausgefüllt wurde. Gut ist, wenn die Menschen direkt Unterlagen mitschicken, ansonsten unterstützen wir falls nötig auch bei der Akten- und Unterlagenrecherche, beziehungsweise der Suche. Wenn keine Unterlagen mehr auffindbar sind, gilt aber auch die Glaubwürdigkeit.

Das Beratungsgespräch findet meist in der Anlauf- und Beratungsstelle statt. Wir suchen aber Betroffene auch auf, wenn die Person nicht in die Beratungsstelle kommen kann. Jetzt, während Corona, finden aber auch manche Gespräche mithilfe von  Videokonferenzen statt. Da müssen wir dann oft auch ein wenig flexibler sowie kreativer sein und einfach gucken, wie und in welcher Form ein Beratungsgespräch stattfinden kann. Nach dem Gespräch schicken wir den sogenannten Erfassungsbogen zur Geschäftsstelle nach Bochum. Dort werden nochmal bestimmte Angaben geprüft: Beispielsweise ob die Person bei ihrer/seiner Unterbringung minderjährig war. Diese Bearbeitung dauert ein paar Wochen. Ganz wichtig ist aber, dass alles, was im Gespräch erzählt und dokumentiert wird, streng vertraulich ist und nicht weitergeschickt wird.

Ein sehr hell und freundlich eingerichteter Raum mit Zimmerpflanzen, hängenden Bücherregalen, einem Bild an der Wand und einem Tisch mit drei Stühlen.
Ein Beratungsraum in Berlin.

Blicken wir noch einmal auf den gesamten Ablauf: nach der Erstberatung folgen ja sicher weitere Gespräche, gegebenenfalls psychologische Betreuung zur Aufarbeitung und am Ende steht ja im Idealfall auch eine finanzielle Anerkennungsleistung. Wie geht es für Betroffene als nach Anmeldung und Erstgespräch weiter?

Jutta Seubert: Also bei den Beratungsgesprächen kommen die Menschen oft mit Unterstützern, mit Betreuern oder Angehörigen, zu uns. In den Gesprächen kristallisiert sich dann oft heraus, dass viele überhaupt zum ersten Mal über ihre Erlebnisse sprechen. Die Bandbreite von unterschiedlichen Fällen ist wirklich groß und dementsprechend ist jedes Beratungsgespräch und der Anerkennungsprozess sehr individuell. In der Regel führen wir Gespräche, die ungefähr anderthalb Stunden dauern. Das reicht meistens für diese Reise in die Vergangenheit. Die Betroffenen tauchen nur so weit in ihre Geschichte ein, wie sie möchten. Wir achten sehr darauf, dass es zu keiner Re-Traumatisierung kommt.  

Darüber hinaus bieten wir aber immer an, dass wir noch Folgegespräche machen können. Wir sind auch mit anderen Beratungsstellen vernetzt und vermitteln bei Bedarf weiter. Dort könnten Themen, wie sexueller Missbrauch und andere traumatische Erlebnisse vertieft werden. Das können wir in der Beratung in dem Umfang gar nicht bieten und sagen das auch von Anfang an. Manche nehme dieses Angebot der Weitervermittlung an, andere nicht.

17.878 Betroffene – 748 Fälle in Berlin

Wie viele Fälle wurden bei der Stiftung Anerkennung Hilfe denn bisher insgesamt aufgearbeitet?

Jutta Seubert: Bis Ende März 2021 waren es insgesamt 17.878 Betroffene, die Leistungen bekommen haben. Allein in Berlin waren es 748 Fälle. Gemeldet haben sich in Berlin bei beiden Anlauf- und Beratungsstellen bis jetzt über 1.000 Menschen. Die natürlich alle geprüft wurden und werden. Es gibt auch Ablehnungen. Beispielsweise wenn jemand schon vom „Heimkinder-Fonds“ Geld bekommen hat, da die Stiftung Doppelzahlungen zur gleichen Sache ausschließt. Oder wenn Menschen nicht in stiftungsrelevanten Einrichtungen waren. Viele haben den „Heimkinder-Fonds“ verpasst und wir schauen dann, ob die Betroffenen in für uns relevanten Psychiatrien oder stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe untergebracht waren.

Die Fristen wurden nun noch mal verlängert. Können Sie dazu etwas sagen?

Josefine Stockmann: Genau, die Anmeldefrist wurde verlängert bis Ende Juni 2021. Und die Arbeit der Stiftung selber wurde ein Jahr verlängert bis Ende 2022. Entscheidend war einfach die neue Situation der Pandemie.

Jutta Seubert: In den Pandemie-Zeiten, das haben wir deutlich gemerkt, waren eben auch gesetzliche sowie pädagogische Betreuerinnen und Betreuer häufig mit anderen Dingen beschäftigt. Gerade in der Zeit der ersten Corona-Welle, während des Lockdowns war zu sehen, dass es viel weniger Anmeldungen gab. Und das ist eigentlich immer noch so. Deshalb haben wir jetzt auch noch einmal eine Kampagne gestartet, um noch möglichst viele Betroffene zu erreichen. Damit sich möglichst viele noch anmelden oder wenigstens anrufen, um erst einmal auf unseren Listen zu stehen. Auch wenn sich Betroffene nicht sicher sind, ob die Einrichtung, in der sie Unrecht erfahren haben, für uns relevant ist: Lieber erst einmal anmelden!

„Ich versuche dann am Schluss auch immer die Tür zur Vergangenheit wieder zuzumachen und zu sehen und zu benennen, was für tolle Menschen da heute sitzen.“

Als Beraterinnen bekommen Sie ja relativ viele Schicksale mit. Darunter sicher auch Dinge, die an einem nagen können. Wie schaffen Sie es, das nicht mit nach Hause zu nehmen?

Josefine Stockmann: In den Beratungsgesprächen habe ich schon von sehr schlimmen Erlebnissen in Psychiatrien und Einrichtungen der Behindertenhilfe gehört.  Ganz oft kommt es auch auf das Gespräch selbst an. Manche Menschen haben das ja auch selbst schon ganz anders verarbeitet als andere. Die erzählen dann viel gefasster als andere, die noch sehr emotional und aufgewühlt sind. Also mir hilft es auf jeden Fall, dass wir hinterher einen Dokumentationsbogen schreiben, wo wir auch Notizen aus dem Gespräch aufnehmen. Diese Nachbereitung hilft, aber vor allem auch der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen von Lebenshilfe und EJF, insbesondere Frau Seubert. Einfach noch einmal über die besonders schweren Fälle zu sprechen, ist hilfreich, genau wie die Supervision einmal im Monat.

Jutta Seubert: Wie Frau Stockmann schon sagt, ist es oft ganz abhängig von dem Menschen, der einem gegenübersitzt und wie emotional das Gespräch verläuft. Wir versuchen alle Gespräche, die ja auch immer eine Reise in die Vergangenheit mit allen Emotionen darstellen, so behutsam und empathisch wie möglich zu führen. Dazu gehört zum Beispiel auch aufzupassen, wie weit man nachfragt oder wann und wie oft man Pausen macht. Ich versuche dann am Schluss auch immer die Tür zur Vergangenheit wieder zuzumachen und zu sehen und zu benennen, was für tolle Menschen da heute sitzen.

Viele haben trotz dieser schlechten Bedingungen in Kindheit und Jugend ganz häufig einen tollen Weg gemacht haben. Oft liest man in den Akten Dinge wie: „Dieser Mensch wird niemals selbstständig außerhalb des Heimes leben können.“ Und dann sitzen da Menschen, die leben heute selbständig in der eigenen Wohnung und haben noch so viel gelernt und geschafft, obwohl ihnen teilweise so viel Förderung, Schule und Beschäftigung gefehlt haben. Dass sie ihren Weg gegangen sind, benenne ich immer. Dieses positive Ende in den Gesprächen hilft auch mir persönlich.

Aufarbeitungsergebnisse der Stiftung Anerkennung und Hilfe

Sämtliche Fälle, die Sie bearbeiten, werden ja auch wissenschaftlich aufgearbeitet. Gibt es da bereits neue Ergebnisse und Erkenntnisse?

Jutta Seubert: Ja, auf der Webseite der Stiftung werden die Ergebnisse auch immer veröffentlicht. Momentan gibt es da bereits einen Zwischenbericht. Außerdem gab es im Mai 2019 in Berlin eine Anerkennungsveranstaltung, da hat Prof. Dr. Fangerau, der die wissenschaftliche Aufarbeitung leitet, auch vom Forschungsstand berichtet. Das kann man sich auch auf der Website anschauen. Dafür werden in jedem Bundesland bestimmte Einrichtungen und deren Akten genau betrachtet: die Pädagogik, die Strukturen, Fälle von Medikamentenmissbrauch und weitere Felder.

Werden diese Erkenntnisse und Ergebnisse auch an die betroffenen Einrichtungen zurückgespielt?

Jutta Seubert: Neben der Anerkennungsarbeit von uns Beraterinnen und Beratern, die eine individuelle Anerkennung geben, spielt auch die öffentliche Anerkennung eine wichtige Rolle, die durch die wissenschaftliche Aufarbeitung kommt. Das thematisiert wird, dass es eben in den Einrichtungen zu Leid und Unrecht kam. Inwiefern das zurückgespielt wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich denke, dass es da einen guten und konstruktiven Austausch gibt und ein Interesse, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sehr viele der großen Einrichtungen, die betroffen waren, gibt es aber heute auch gar nicht mehr, beispielsweise in Berlin der Wiesengrund.

Gerade hier in Berlin gab es aber auch nicht diese riesigen Einrichtungen, wie beispielsweise in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen oder Mecklenburg-Vorpommern. Da passiert in diese Richtung noch viel mehr und da wird auch von den Ländern aus viel mehr zur Aufarbeitung in Auftrag gegeben. Das betrifft zum Beispiel auch viele Einrichtungen für Gehörlose. Auf die Stiftung Anerkennung und Hilfe kommen ganz viele Menschen zu, die in Internaten für gehörlose Kinder und Jugendliche, in Blindeninternaten oder Schulen für Körperbehinderte untergebracht waren. In Berlin gab es diese Einrichtungen nicht so häufig. Die Kinder aus Berlin wurden oft eher in andere Bundesländer geschickt.

Gibt es für Betroffene auch noch mal eine Rückmeldung mit Erkenntnissen oder eine Möglichkeit, Einblicke zu bekommen?

Jutta Seubert: Ja, die Wissenschaftler planen eine Zusammenfassung der Ergebnisse des Abschlussberichtes in einer kurzen Broschüre. Diese soll es dann auch in Leichter Sprache geben. Was auch spannend ist, ist das Zeitzeugenportal auf der Webseite der Stiftung. Das gibt es in Leichter und schwerer Sprache und dort beschreiben Betroffene freiwillig und wer möchte anonym, was ihnen an Leid und Unrecht widerfahren ist. Bis November 2020 wurden die Einträge für den Abschlussbericht der Wissenschaftler verwendet.  Alle Einträge danach können jedoch noch für Nachfolgeprojekte genutzt werden und in die Forschung einfließen.

Findet im Rahmen dessen auch ein Austausch statt?

Jutta Seubert: Nein, das nicht. Das ist kein Chat, sondern da können Betroffene reinschreiben, was sie erlebt haben. Also es sind fest formulierte Fragen. „Wie haben Sie da gelebt und geschlafen?“, „Wie waren die Erzieher?“ und so weiter.
Regen Austausch gibt es ja bei den ehemaligen Heimkindern. Die sind sehr stark vernetzt und haben ihre eigenen Foren. In unserem Rahmen der Stiftung Anerkennung und Hilfe gibt es das aber nicht.

Ist denn am Abschluss des Projektes ein Buch oder eine andere Publikation geplant?

Jutta Seubert: Ja, auf jeden Fall seitens der Wissenschaftler. Im Sommer 2021 wird es seitens der Wissenschaft auf jeden Fall einen Abschlussbericht geben, der im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert und dann über die Webseite der Stiftung auch zugänglich gemacht wird. Ob es dann auch ein Folgeprojekt geben wird, ist nicht klar. Ein gutes Beispiel dafür wäre das Folgeprojekt „Unser Haus“ beim Heimkinder-Fonds, wo sich heute noch ehemalige Heimkinder treffen, Biographiearbeit machen, sich vernetzen, Beratung bekommen, gemeinsam kochen und vieles mehr. Ob es ein ähnliches Projekt von der Stiftung Anerkennung und Hilfe geben wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Das muss auch der Senat entscheiden.

Die Vergangenheit präsent halten – Gegenwart und Zukunft verbessern

Was wäre denn Ihr persönlicher Wunsch als Beraterin, wie es weitergehen könnte?

Jutta Seubert: Also ich fände es schon gut, wenn es dann nicht abrupt zu Ende ist, sondern dass es weiterhin eine Anlaufstelle gibt. Ganz ähnlich wie „Unser Haus“, was ich ja eben schon beschrieben habe. Es ist ja immer gut, sich zu vernetzen, sich mit Menschen zu treffen, die ähnliche Dinge erlebt haben. Das wäre genauso ein Wunsch von mir wie, dass es weitergeht. Dass die Erkenntnisse, die man jetzt gesammelt hat, nicht untergehen, sondern präsent bleiben und helfen, dass sich Strukturen weiterentwickeln können.

„Missbrauch, Gewalt und Unrecht, passieren nach wie vor. […] Genau deshalb ist es so wichtig, diese Themen präsent zu halten.“

Also auch, um Fachkräfte zu sensibilisieren und zu schulen?

Josefine Stockmann: Ja, also ich würde mich da anschließen. Dass es weiterhin eine Anlaufstelle gibt. Um einerseits diese Anerkennung und das Bewusstsein lebendig zu halten. Und andererseits Betroffenen einfach die Möglichkeit und den Raum zu geben, dass sie in den Austausch miteinander gehen können. Damit dieses Thema nicht einfach vorbei ist, sondern dass da eine Kontinuität entsteht.

Auch der gesellschaftliche und soziale Wandel, der aus dem Projekt entstehen kann, ist wichtig. Dass man, wie man immer so schön sagt, aus der Vergangenheit lernt. Denn diese Dinge wie Missbrauch, Gewalt und Unrecht passieren nach wie vor. Auch wenn sie das nicht mehr sollten. Genau deshalb ist es so wichtig, diese Themen präsent zu halten, damit eine Weiterentwicklung für die Zukunft stattfinden kann. Einfach nur zu sagen, dass wir die Vergangenheit abgehakt haben, reicht nicht. Wir müssen auch nach vorne schauen mit den Erkenntnissen und mit ihnen die Gegenwart und die Zukunft besser gestalten.

Jutta Seubert: Was ich auch ganz erstaunlich finde, ist die biografische Arbeit, die geleistet wird. Selbst Angehörige und Betreuerinnen und Betreuer sind immer wieder überwältigt und sagen: „Mensch, das wusste ich auch nicht, das habe ich ja noch nie gehört.“ Daher ist es wirklich wichtig, dass die betroffenen Menschen eine Stimme bekommen und gehört werden. Und das ist auch für uns eine ganz wichtige Rückmeldung, wenn die Menschen dann sagen: „Endlich hat mir jemand geglaubt, was ich erzähle und es auch anerkannt.“ Da darf nichts unter den Teppich gekehrt werden, wie es viel zu lange der Fall war. Deshalb sollte es weiterhin diesen Raum geben und nicht am Ende heißen: Projekt vorbei, Thema erledigt, hören wir nie mehr von.

Josefine Stockmann: Was ich auch oft höre ist, dass Menschen sagen: „Es ist so schön, dass ich mal höre, dass es nicht meine Schuld war.“ Denn viele sind sich mit ihrer Situation so unsicher und geben sich selbst die Schuld an dem, was ihnen widerfahren ist. Sie reden sich ein, dass sie böse oder schlecht waren und es irgendwie verdient gehabt hätten. Deshalb ist es auch wichtig, immer wieder klar auszusprechen: Nein, es ist nicht eure Schuld, was euch passiert ist. Euch ist Unrecht widerfahren. Unrecht, an dem ihr keine Schuld habt und das wir anerkennen wollen.  

Liebe Frau Seubert, liebe Frau Stockmann, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!

Zur Website der Stiftung Anerkennung und Hilfe

Das Interview führte Nico Stockheim

Titelfoto by Jeremy Bishop on Unsplash