Sexuelle Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung:
Einblicke in die Arbeit eines Sexualassistenten
Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Grundrecht, doch Menschen mit Behinderung stehen oft vor besonderen Herausforderungen, dieses Recht zu verwirklichen. Für jene, die ihre Vorstellungen von einem erfüllten Sexualleben nicht oder nur eingeschränkt leben können, kann Sexualassistenz oder Sexualbegleitung eine Alternative sein. Seit 2013 bietet Manuel, einer der wenigen Männer in dieser Branche, Sexualbegleitung an. Der Sozialarbeiter gibt Einblicke in die Bedürfnisse der Menschen, die sich an ihn wenden, und erklärt, was Sexualassistenz in der Praxis bedeutet.
Sexuelle Wünsche von Menschen mit Behinderung: ein Tabu?
Dass Menschen mit Behinderung sexuelle Bedürfnisse haben, ist immer noch ein Tabu. Viele haben aufgrund ihrer Behinderung nur wenige oder gar keine sexuellen Erfahrungen gemacht. „Das hat mich sehr beschäftigt“, beschreibt Manuel seinen Weg in diese Dienstleistung. Schnell wurde klar, dass Sexualbegleitung weit über herkömmliche sexuelle Dienstleistungen hinausgeht.
Eine Mischung aus Sexarbeit, Berührungen und Aufklärung
Sexualbegleitung fällt gesetzlich gesehen unter Prostitution/Sexarbeit. Meist geht es dabei um eine Person, die sich sexuelle Nähe wünscht und keine Person hat, mit der sie diese realisieren kann. Für Manuel steht der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund, unabhängig vom Geschlecht. Dazu gehören ausführliche Vorgespräche, in denen er die Wünsche, Vorerfahrungen und spezielle Probleme aufgrund der Behinderung der Klienten erfährt, und die sorgfältige Planung des eigentlichen Treffens. Abgerechnet wird nicht nach Stunden. Manuel bespricht mit den Klienten einen Pauschalpreis, der die Vorgespräche und die eigentliche sexuelle Begegnung abdeckt. „Eine sorgfältige Vorbereitung ist wichtig, damit sich die Person während der Begegnung wirklich sicher fühlt und sich nicht von zu hohen Erwartungen leiten lässt“, erklärt Manuel. Denn es kann, muss aber bei den Treffen nicht zu sexuellen Handlungen kommen.
„Wenn man sich vorstellt, dass man zum Beispiel durch einen Unfall plötzlich nicht mehr laufen kann, sind die Bedürfnisse, auch die sexuellen, noch da“, sagt Manuel. Doch wie stark ist die sensorische Empfindung durch eine Lähmung eingeschränkt? Welche erogenen Zonen gibt es noch? Gerade wenn keine Partnerschaft existiert, in der man Verschiedenes ausprobieren kann, ist die betroffene Person oft ratlos.
„Man muss es einfach herausfinden. Oft reichen Kuscheln und Streicheln in einer schönen Atmosphäre“, beschreibt Manuel, „Sexualbegleitung, die eine Palette an Möglichkeiten kennt und wo ich gemeinsam mit der Person Schritt für Schritt sexuellen Kontakt entwickeln kann, ist hier eine echte Alternative“.
Mehr Vertrauen in den eigenen Körper gewinnen
Ein Beispiel: „Eine gehbehinderte Klientin hat sich sehr reflektiert auf das Treffen mit mir vorbereitet und Literatur über die Möglichkeiten sexueller Empfindungen für Menschen mit Gehbehinderung gelesen“, erzählt Manuel. Ihre Ideen besprach sie mit Manuel in dem Vorgespräch. Schon hier achtet er darauf, dass bei der ersten Begegnung eine gute Atmosphäre herrscht. Denn es erfordert Vertrauen und Mut, mit ihm als fremde Person zum Beispiel über Lösungen bei Orgasmusproblemen zu sprechen. Als es zum eigentlichen erotischen Treffen kam, konnte die Klientin nur wenige ihrer Ideen mit Manuels Hilfe umsetzen, zu sehr überwältigten sie ihre Gefühle. „Trotzdem war es eine sehr schöne Erfahrung für sie, vor allem hat sie mehr Vertrauen in ihren eigenen Körper gewonnen“, sagt er. Schon eine intime Begegnung mit Kuscheln bei Kerzenschein könne für viele Klientinnen und Klienten eine intensive Erfahrung sein, so sein Fazit.
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und rechtliche Aspekte
Der Beruf des Sexualbegleiters ist in Deutschland nicht gesetzlich geschützt, was eine zertifizierte Ausbildung umso wichtiger macht. Verschiedene Institutionen bieten eine zertifizierte Qualifizierung zum Sexualbegleiter an. Diese Fortbildung wird überwiegend von Frauen genutzt, die bereits in der Sexarbeit tätig sind. Zu den bekanntesten Ausbildern zählen die Beratungsstelle „Sandfort“ in Berlin oder der in Nürnberg ansässige Verein „Kassandra e.V., Fachberatungsstelle für Prostituierte“ in Zusammenarbeit mit „Pro Familia“. Ziel der Sexualbegleitung ist laut Eigendarstellung der Institutionen die reflektierte Persönlichkeitsentwicklung der Klientinnen und Klienten, insbesondere durch Stärkung der erotischen und sexuellen Kompetenz sowie Empowerment.
In seinem privaten Umfeld spricht Manuel selten über seinen Beruf. „In meiner Partnerschaft ist natürlich bekannt, was ich tue und wird auch unterstützt; darüber hinaus spreche ich selten von meiner Arbeit“, sagt er. Es gibt aber auch Sexualbegleiter, die öffentlich über ihre Arbeit sprechen. „Sie kämpfen seit Jahren um Anerkennung, was ich großartig finde.“
Die aktuelle Ausgabe des Wir-Magazins „Intime Welten – Sexuell selbstbestimmt“ 2/2024 hat weitere Artikel zu dem Thema.