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Ein Rettungswagen mit Blaulicht.

Schlaganfall in der Pandemie: Interview mit Dr. Michael Brinkmeier

Heute ist Weltschlaganfalltag. Im Jahr 2006 durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufen, soll er das öffentliche Bewusstsein für das Thema schärfen und über Prävention, Auswirkungen und Behandlungsmöglichkeiten von Schlaganfällen aufklären. Anlässlich des diesjährigen Weltschlaganfalltages haben wir mit Dr. Michael Brinkmeier, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, über die Versorgung von Patienten mit Schlaganfall in der Pandemie gesprochen.

Unerkannte und unbehandelte Schlaganfälle in der Pandemie

Sehr geehrter Herr Dr. Brinkmeier, während des ersten Shutdowns meldeten sich bald besorgte Medizinerinnen und Mediziner aus den Notaufnahmen der Krankenhäuser zu Wort. Sie hatten bemerkt, dass Betroffene von beispielsweise Schlaganfällen oder Herzinfarkten aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus nicht in die Krankenhäuser kamen. Wie hat die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe diese Situation erlebt?

Dr. Brinkmeier: Wir haben, wie auch die Fachmedizinerinnen und Fachmediziner, diese Entwicklung mit großer Sorge beobachtet. Inzwischen haben sich die Zahlen zwar wieder auf dem zu erwartenden Niveau stabilisiert. Doch gerade in den ersten Wochen des Shutdowns im Frühjahr sind offenbar viele Personen mit einem leichten Schlaganfall nicht in die Stroke Units (auf die schnelle Behandlung von Schlaganfällen spezialisierte Abteilungen; Anm. d. Redaktion) gekommen. Mehrere Tausend Personen in Deutschland laufen deswegen Gefahr, einen schweren Schlaganfall zu erleiden, weil der erste Vorfall nicht adäquat versorgt wurde. Diese Effekte werden wir wahrscheinlich erst mittelfristig bemerken und beobachten die Zahlen deswegen ganz genau.

Wir rufen aber gleichzeitig auch alle Menschen auf, sich bei Anzeichen eines Schlaganfalls umgehend in ein Krankenhaus zu begeben. Sie brauchen dort keine großen Sorgen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu haben. Gerade in Kliniken wird besonders viel Wert auf Hygiene gelegt.

Gibt es denn schon messbare Zahlen, in welcher Größenordnung dieser Effekt eingetreten ist?

Dr. Brinkmeier: Ich habe vor einigen Wochen an der virtuellen Konferenz der Stroke-Unit-Betreiber teilgenommen, auf der die Zahlen erstmals grob ausgewertet wurden. Die genauen Daten, die auch mit den Daten der Krankenkassen validiert werden, sind zwar noch nicht da, aber es war schon deutlich zu sehen, dass in den ersten Wochen der Pandemie in Deutschland insbesondere bei leichten Schlaganfällen zwischen 20 und 40 Prozent weniger Aufnahmen zu verzeichnen waren als in Vergleichszeiträumen. Das gleiche gilt übrigens auch für die Herzinsuffizienz. Daraus kann man dann ungefähr ableiten, in welcher Größenordnung eigentlich Betroffene nicht ins Krankenhaus kamen.

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Wie sieht es denn mit der Anschlussrehabilitation aus? Wir bemerkten in unserem P.A.N. Zentrum für Post-Akute Neurorehabilitation auch eine gewisse Angst vor stationären Einrichtungen bzw. Kliniken, da diese mit der Verbreitung des Corona-Virus verbunden worden sind.

Dr. Brinkmeier: Das ist richtig. Auch hier haben wir die Sorge, dass notwendige und wichtige Anschlussrehabilitationsmaßnahmen nicht wahrgenommen werden. Wir appellieren deswegen an die Betroffenen, den Einrichtungen und ihren wirklich sehr guten Hygienekonzepten zu vertrauen. Es ist wirklich wichtig, diesen nächsten Schritt in die Reha zu gehen. Das ist auch wesentlich sicherer als viele denken. Das gilt bis hin zu den therapeutischen und ambulanten Einrichtungen. Überall wird das Ansteckungsrisiko so weit wie möglich minimiert, sodass es für die persönliche Gesundheit gefährlicher ist, die Angebote nicht zu nutzen.

Dr. Michael Brinkmeier vor einem Rednerpult.
Dr. Michael Brinkmeier bei seinem Grußwort bei der Verleihung des Forschungspreis 2018 der Fürst Donnersmarck-Stiftung.

Vorbereitung auf die zweite Welle

Wir beobachten gerade, dass die Infektionszahlen wieder stark steigen. Haben Sie den Eindruck, dass die Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen zur Versorgung von Schlaganfallpatienten gut auf die kommenden Herausforderungen vorbereitet sind?

Dr. Brinkmeier: Ja, ich glaube, wir sind jetzt besser vorbereitet als Anfang März, weil wir alle mehr Zeit hatten und in der Zwischenzeit auch erste Erfahrungswerte sammeln konnten.

Gleichwohl möchten wir als Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe allen deutlich machen, dass das klinische Personal großen Belastungen in den letzten Monaten ausgesetzt war. Deswegen richtet sich unser Apell auch an diejenigen, die vielleicht etwas sorglos glauben, das Risiko sei aktuell nicht groß. Jeder kann seinen Teil dazu beitragen, dass das so wichtige klinische Personal nicht unnötig durch fahrlässige Verhaltensweisen belastet wird. Da muss man auch an die Eigenverantwortung appellieren. Wir müssen in jedem Fall dafür sorgen, dass das klinische Personal genügend Ressourcen und persönliche Kraft hat, um den Menschen zu helfen, die ihre Hilfe benötigen. Sei es durch Covid-19 selbst oder auch durch eine andere Krankheit wie eben den Schlaganfall.

Sie sprechen einen mittelbaren Effekt der Corona-Pandemie an: Wenn die Patientenzahlen zu sehr steigen, haben die Krankenhäuser sowie niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte keine Kapazitäten, um andere Erkrankungen zu behandeln, die ebenfalls sehr gefährlich sein können.

Dr. Brinkmeier: Ganz genau. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne noch einen weiteren Punkt ansprechen: Wir haben alle erlebt, wie komplex und unübersichtlich die Situation gerade am Anfang der Corona-Pandemie gewesen ist. Damit meine ich gar nicht Fragen wie fehlende persönliche Schutzausrüstung, Mund-Nasenschutz, Beatmungsgeräte oder eben natürlich noch nicht vorhandene Impfstoffe. Mir geht es vor allem um die Informationen über das Corona-Virus und das Vertrauen in der Gesellschaft.

Hier hat die Corona-Pandemie ein Defizit aufgezeigt: Selbst heute muss man mehrere Telefonnummern anrufen, wenn man beispielsweise die Sorge hat, dass man in den Randbereich einer Erkrankung geraten sein könnte: Den eigenen Hausarzt, das Gesundheitsamt oder die 116 117. Es gibt also keine geordnete Struktur in Deutschland, die den Menschen Sicherheit bietet.

Wir haben beim Thema Schlaganfall ein positives Gegenbeispiel: Unsere Schlaganfall-Lotsen.

Schlaganfall-Lotsen als Modellprojekt

Können Sie das näher beschreiben?

Dr. Brinkmeier: Mit den Schlaganfall-Losten betreuen wir 1500 Betroffene. Obwohl wir keine Hausbesuche mehr machen konnten, standen wir immer in Kontakt und konnten auch in den vergangenen, schwierigen Monaten helfen. Die Menschen, die von unseren Lotsen betreut worden sind, haben uns gesagt, dass diese ein Ankerpunkt für sie gewesen seien.

Als Stiftung haben wir uns nun ganz ausdrücklich zum Ziel gesetzt, das Lotsenprinzip nicht nur für Menschen mit einer chronischen Erkrankung oder komplexen Versorgungslage zu etablieren. Wir müssen grundsätzlich in unserem Gesundheitswesen darauf hinarbeiten, dass es in allen Stadtteilen und in den Dörfern echte Anlaufstellen gibt – wie früher die Gemeindeschwester. Hier muss es einfach strukturelle Änderungen geben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der über den Schlaganfall und Covid-19 hinausgeht und eine grundlegende Problematik in Deutschland aufzeigt.

Sozusagen eine „110“ für Gesundheitsfragen?

Dr. Brinkmeier: Eine zentrale Anlaufstelle für Informationen und Koordination aus einer Hand. Diese muss auf den Menschen, auf die einzelne Person bezogen sein. Wenn man vor Ort vernetzt ist, kann man die einzelnen Menschen besser einschätzen: Ist das jetzt nur ein Schnupfen oder doch ein Ernstfall? Viele Menschen wissen einfach nicht, an wen sie sich wenden können und brauchen deswegen diese zentrale Anlaufstelle. Aber diese Anlaufstellen müssen eben aus echten Menschen bestehen und dürfen nicht durch eine App oder ein Computerprogramm ersetzt werden. Menschen brauchen Menschen.

Herr Dr. Brinkmeier, vielen Dank für das Gespräch!

Über die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe

Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe wurde 1993 durch Liz Mohn gegründet. Sie setzt sich intensiv für die Versorgung von Schlaganfallpatientinnen und -patienten sowie eine bessere Vorsorge vor Schlaganfällen ein. Ein Schwerpunkt ihrer Aktivitäten liegt auf der Unterstützung von Selbsthilfegruppen. https://www.schlaganfall-hilfe.de/

Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe hat außerdem zahlreiche Informationen zum Thema Corona und Schlaganfall zusammengetragen.