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Blick auf die Borsigwerke in Tegel im Bezirk Reinickendorf

Die Beauftragten: Interview mit Regina Vollbrecht | Reinickendorf

In unserer Reihe „Die Beauftragten“ wollen wir nach und nach mit den Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen aus allen Berliner Bezirken sprechen. Hier richten wir den Blick auf Regina Vollbrecht, die seit 2016 das Amt der Beauftragten für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Reinickendorf bekleidet.

Neue Blickwinkel

Wie war Ihr persönlicher Weg in das Amt der Bezirksbeauftragten? Was hat Sie an diesem Amt gereizt und was haben Sie vor dieser Funktion gemacht?

Regina Vollbrecht: Bis 2015 war ich in meiner Freizeit als Langstreckenläuferin unterwegs. Beispielsweise wurde ich über 100 Kilometer deutsche Meisterin in meiner Altersklasse der Sehenden und hatte bei den blinden Frauen den Weltrekord im Marathon. Ich war aber während meiner Sportkarriere immer in Vollzeit als Sozialarbeiterin berufstätig, habe Punktschrift, Computer und Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Aber auf Dauer geht so ein hoher Aufwand nicht, zumal ich als Mensch mit Behinderung ohnehin den Alltag noch mal anders organisieren muss.

Als ich 2016 die Stellenausschreibung zur Bezirksbehindertenbeauftragten in Reinickendorf las, habe ich mich sofort beworben, mich dem Bezirksamtsgremium und Fraktionen in Reinickendorf vorgestellt und von der Bezirksverordnetenversammlung wählen lassen. Persönlich hat mich an dem Amt die neue berufliche Herausforderung und die Vielfältigkeit der Aufgaben gereizt. Auch finde ich den Umgang mit verschiedenen Behinderungsformen interessant; das eröffnet immer wieder neue Blickwinkel.

Porträtfoto von Regina Vollbrecht
Regina Vollbrecht

„Wenn man selber betroffen ist, schafft man auch ein anderes Bewusstsein.“

Regina Vollbrecht

Welche Rolle und Aufgaben haben Sie im Bezirk?

Regina Vollbrecht: Unsere Aufgaben sind im Paragraph 29 des Landesgleichberechtigungsgesetz geregelt. Darin wird unter anderem festgelegt, dass Bezirksbeauftragte in alle Projekte, die Menschen mit Behinderung betreffen, eingebunden werden. Das schafft man natürlich bei der Fülle der Vorhaben nicht in jedem Fall, auch weil meine Beteiligung immer wieder vergessen wird. Doch  ich kann in meinem Job in kleinem Rahmen Dinge verändern. Aufgrund der eigenen Betroffenheit bringe ich eine bestimmte Sichtweise mit. Das löst bei den Kollegen auch etwas aus. Es wirkt glaubhaft, wenn ich z. B. bei Konferenzen darauf hinweise, dass blinde Menschen auf Leitsysteme angewiesen sind. Ein Beispiel: In Reinickendorf wurde für das Bezirksamt ein Containerhaus gebaut. Die Türschilder wurden mit Brailleschrift versehen. Doch mein Kontrollgang ergab, dass einige Beschriftungen fehlerhaft sind. Das sind wichtige Kleinigkeiten. Das Facility Management hat sich natürlich auf die Firma verlassen,  welche die Schilder gefertigt hat und diese hat offenbar keinen Korrekturleser. Das zeigt, dass es in solchen Vorgängen Experten in eigener Sache braucht.

Ich komme mit konkreten Anliegen

Ich versuche, insbesondere mit den Stadträten im Austausch zu bleiben und ein Bewusstsein für die Bedeutung von Barrierefreiheit zu bilden. Dabei geht es mir nicht darum, ständig an die UN-BRK zu erinnern, sondern ganz praktisch mit Bürgerbeschwerden an die Kollegen heranzutreten und sie so für die Probleme von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Ich bin nicht der mahnende Typ, sondern komme mit konkreten Anliegen. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht.

„Ich freue mich über jede kleine Veränderung, die ich bewirken konnte.“

Regina Vollbrecht

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Vorhaben in Reinickendorf?

Regina Vollbrecht: An erster Stelle kann ich auf den „Aktionsplan Reinickendorf inklusiv“ verweisen, den wir gemeinsam mit dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, den Mitgliedern des Behindertenbeirats und den Abteilungen des Bezirksamtes für Reinickendorf erarbeitet haben.

Dieser Plan führt bisherige Aktivitäten, um das Leben von Menschen mit Behinderung im Bezirk zu verbessern und ihre Teilhabe zu sichern, zusammen und entwickelt sie weiter. Wir wollen den Bezirk barrierefreier gestalten und mehr inklusive Angebote organisieren.

Regina Vollbrecht steht vor einem SEV-Bus bei der Ankunft. Deutlich zu sehen: Die Leitstreifen zwischen den Bustüren, die zum Gehweg führen sollen, werden vom Radweg unterbrochen.
Regina Vollbrecht vor Ankunft des SEV-Bus. Die Leitstreifen zwischen zwischen den Bustüren werden vom Radweg unterbrochen.

Weitere Vorhaben haben viel mit meinen Schwerpunkten Verkehr, Sport und Digitalisierung zu tun. Bei diesen Themen arbeite ich auch in den entsprechenden Arbeitsgruppen des Senats. Verkehr ist ein Thema, bei dem ich außerdem eng mit der BVG zusammenarbeite. Diese plant zur Zeit das Projekt „Fahrgastinformation akustisch“. Dabei geht es um die Einführung einer sprechenden Außenansage an Bussen und Straßenbahnen sowie eine barrierefreie App dazu. Zur gleichen Zeit haben wir seit dem 7. November zwischen U-Bahnhof Alt-Tegel und Kurt-Schumacher-Platz Schienenersatzverkehr. (Aufgrund von Sanierungsarbeiten fahren in diesem Abschnitt bis Frühjahr 2025 keine U-Bahnen.) Jetzt haben wir zum ersten Mal in Reinickendorf, und ich glaube zum zweiten Mal berlinweit, ein Blindenleitsystem, das vom Ausgang des U-Bahnhofes Kurt-Schumacher-Platz direkt zum Bus führt. Das ist ein gelungenes gemeinsames Projekt, auf das ich stolz bin.

Wie barrierefrei sind E-Akten?

Auch Projekte zur Digitalisierung sind mir wichtig. Zur Zeit wird die elektronische Akte eingeführt. Der Senat hat dazu zwar ein Gutachten zur Barrierefreiheit in Auftrag gegeben. Aber mit meinen Kollegen habe ich mich darauf verständigt, dass ich im Februar 2023 das System selbst testen darf. Das finde ich wichtig, da man erst in der Praxis Probleme bemerkt. Das war zum Beispiel bei der Einführung von BigBlueButton als Videokonferenzsystem der Fall. Das hat auch einige Haken, obwohl es als größtenteils barrierefrei eingestuft war. Der Datenschutz war der Grund, sich für dieses System zu entscheiden.

Von wem erhalten Sie denn die wichtigste Unterstützung bei Ihren Themen?

Regina Vollbrecht: Der kollegiale Austausch hier in Reinickendorf mit den Stadträten und Amtsleitungen, aber auch mit den anderen Bezirksbeauftragten und der Landesbeauftragten, Frau Braunert-Rümenapf, ist sehr gewinnbringend. Bei der unglaublich großen Themenvielfalt ist das eine wichtige Ressource. Wenn ich bei manchen Dingen Fragen habe, kann ich mich auch an Uwe Brockhausen, den Bezirksbürgermeister, wenden.

Ich habe aber auch Verbindungen in die Zivilgesellschaft: Jedes Jahr organisiere ich beispielsweise den „Tag für Menschen mit Behinderungen“ im Bezirk. In dieser Größenordnung ist dieser Tag berlinweit einzigartig und für den Austausch gut. Netzwerken ist ohnehin sehr wichtig, um mit seinen Anliegen weiterzukommen. Gerade bei den Verkehrsthemen ist mir eine gute Einbindung zu Entscheidern auf Senatsebene hilfreich.

Wie gestaltet sich in Ihrem Bezirk die Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeirat?

Regina Vollbrecht: In Reinickendorf haben wir einen der aktivsten Beiräte in der Stadt. Wir treffen uns neunmal im Jahr. Der größte Vorteil, den ich im Beirat sehe, sind die gemeinsamen Berollungen. Jedes Jahr schauen wir uns  unterschiedliche Gebiete vor Ort an und ermitteln die Barrieren, z. B. wenn es um Absenkungen von Bordsteinen geht. Da legen wir gemeinsam mit dem Straßen- und Grünflächenamt die Prioritäten für Maßnahmen fest. Das wichtigste für mich ist, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen im Bezirk unterwegs sind und mir Barrieren oder andere Missstände mitteilen, die ich nicht alle bemerken kann. Beiratsmitglieder engagieren sich auch in der Jury zum Ehrenpreis. Jährlich verleihen wir diesen Preis an Bürgerinnen und Bürger, die Menschen mit Behinderungen ehrenamtlich unterstützen.

Mit welchen Anliegen kommen Menschen in Ihrem Bezirk typischerweise zu Ihnen?

Regina Vollbrecht: Alle Anfragen, die das Leben mit Behinderung betreffen, erreichen mich. Viele Menschen, die sich an mich wenden, sind schon älter. Sie suchen z.B. eine Wohnung, einen Pflegedienst, möchten einen Antrag auf Schwerbehinderung stellen oder haben Fragen zur Grundsicherung. Oder sie wollen den Personalausweis verlängern und können nicht mehr das Haus verlassen. Dafür haben wir in Reinickendorf übrigens den „mobilen Bürgeramtskoffer“, der bei Hausbesuchen sehr hilfreich ist und der auch schon im P.A.N. Zentrum der Fürst Donnersmarck-Stiftung war. Auch Anfragen aus  Werkstätten für Menschen mit Behinderungen erreichen mich. Ich habe ja auch eine Lotsenfunktion und vermittele auch Anfragen z.B. nach Begleitungen bei der Jobsuche an den Integrationsfachdienst.

Parkerlaubnis auch für Angehörige

Schwierig gestalten sich aber Anfragen zur Vergabe von personenbezogenen Parkplätzen in Reinickendorf. Die bekommen oft nur Personen, die selbst das Auto fahren. Blinde Menschen oder Eltern, die ein Kind im Rollstuhl haben, für die ist die Situation deutlich erschwert. Ich kann da leider nur Empfehlungen aussprechen. Aber ich thematisiere das Problem auf Senatssitzungen und erkläre, dass Parkplätze nur eines von vielen Herausforderungen sind, die Menschen mit Behinderung zu meistern haben. Da kann eine Erleichterung wie eine Parkerlaubnis schon helfen.

Was ist Ihre Vision für einen inklusiven Bezirk Reinickendorf?

Regina Vollbrecht: Gerade im privatwirtschaftlichen Bereich gibt es so viele Baustellen, bis wir wirklich von einer inklusiven Gesellschaft sprechen können. Das betrifft natürlich nicht nur Reinickendorf. Das ist so ein unendlich langer Weg, bei dem ich auch manchmal daran zweifle, dass wir dieses Ziel eines Tages erreichen. Es braucht so viel Bewusstseinsbildung. Da freue ich mich über jede kleine erfolgreiche Etappe, die wir bewältigt haben.

Titelbild: A.Savin – Own work, FAL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63818130