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Podcast WirSprechen: Dem Vergessen entgegenarbeiten

Herzlich willkommen zum Interviewpodcast WirSprechen des Wir-Magazins. Unser Anspruch ist es, unmittelbar, authentisch und auf Augenhöhe über Leben mit Behinderung zu berichten. Das tut in der vierten Folge der Staffel zwei Prof. Dr. Heiner Fangerau von der Heinrich-Heine-Universtät Düsseldorf. Im Auftrag der Stiftung Anerkennung und Hilfe hat er mit einem Forscherteam eine Studie vorgelegt, die sich mit Gewalt- und Unrechtserfahrungen von Kindern und Jugendlichen zwischen 1949 bis 1990 in ausgewählten Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien widerfahren ist.

Interview mit Prof. Heiner Fangerau von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die zweite Staffel unseres Podcast WirSprechen blickt auf Menschen mit Behinderung und ihre Gewalterfahrungen. Passend zur aktuellen Ausgabe des WIR-Magazins 2021/2 „Berichte aus dem Schatten – über Gewalt reden“ gehen wir in sechs Folgen Gewalt- und Unrechtserfahrungen von Menschen mit Behinderung nach. Auch die fachliche Perspektive, die sich mit einzelnen Themen zu Gewalt beschäftigt hat, kommt hier zu Wort.

Eine Studie deckt das Leid von Kindern mit Behinderung in Heimen und Psychiatrien zwischen 1949 – 1990 auf

Auf Basis von schriftlichen Quellen und Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenaussagen gibt eine 600 Seiten starke Studie erstmalig Einblick in Gewalterfahrungen von Kindern mit Behinderung in deutschen Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien. Demütigungen im Alltag, Teilnahme an äußerst fragwüdigen Medikamentenstudien: Prof. Dr. Heiner Fangerau und andere Historikerinnen und Historiker bringen Licht in eine düstere Vergangenheit.

WirSprechen Staffel 2 Episode 5 bei Spotify

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Shownotes zur Folge:
Die Forschungsergebnisse der Studie mit kostenlosen Download-Möglichkeiten: https://stiftung-anerkennung-und-hilfe.de/DE/Aufarbeitung/aufarbeitung.html
Das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung des Landesarchivs Baden-Württemberg mit Kontakt- und Beratungsmöglichkeiten für Betroffene bei Recherchen: https://bit.ly/3hTv0Qx

Das Transkript der Folge „Dem Vergessen entgegenarbeiten“

Es ging uns weniger darum, Zahlen und repräsentative Zahlen zu präsentieren, als ein Bild zu zeichnen, wie es in den Heimen nach 1949 gewesen ist in Kinderpsychiatrie.”

Das war Professor Heiner Fangerau, Medizinhistoriker und Ethiker von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Und mit diesem Einstieg begrüßte sie herzlich zu einer weiteren Folge von Wirsprechen, dem Podcast des Wir-Magazin der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Mein Name ist Ursula Rebenstorf und in den nächsten beiden Folgen beschäftigen sich unsere „Berichte aus dem Schatten – über Gewalt reden“ mit der Aufarbeitung von Gewalt und Unrechtserfahrungen, die Kinder mit Behinderung zwischen 1949 bis 1990 in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien widerfahren sind. Das tun wir zusammen mit Prof. Heiner Fangerau, der im Auftrag der Stiftung Anerkennung und Hilfe eine Forschungsstudie geleitet hat. Und seit Herbst 2021 liegt diese über 600 Seiten starke Studie vor. Meine Kollegin Kirsten Heil und ich konnten mit Professor Fangerau über die hoch spannenden Ergebnisse dieser Studie sprechen. Prof. Dr. Fangerau sitzt in Düsseldorf und wir in Berlin. Daher haben wir den Podcast per Zoom aufgezeichnet und bitten jetzt schon einzelne technische Wackler zu entschuldigen.

Guten Morgen. Wir würden uns eingangs interessieren, wie dieses Forschungsprojekt entstanden ist. Warum hat man angefangen, Gewalterfahrungen gegen Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen aufzuarbeiten?

Prof. Heiner Fangerau Die Aufarbeitung selber von Gewalt, die Aufmerksamkeit dafür, die gibt es schon etwas länger. Es hat angefangen mit Aufarbeitung in einzelnen Kontexten. Das berühmte Werk „Schläge im Namen des Herrn“ hat eine Debatte überhaupt über Gewalt gegen Kinder in Institutionen ausgelöst. Es gab den großen Komplex des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Institutionen und hieraus hat sich ja der Runde Tisch Heimerziehung entwickelt. Und eine Leerstelle in dieser Debatte war lange Zeit die Heimunterbringung, Erziehung von Kindern, die psychisch krank waren oder eine Behinderung hatten. Und in diesem Zusammenhang des Erkennens dieser Leerstelle ist die Stiftung Anerkennung und Hilfe gegründet worden. Und die Stiftung Anerkennung und Hilfe war der Meinung, dass es neben der Anerkennung des individuellen Leid und Unrechts, das Kinder erfahren haben, die Stiftung Anerkennung und Hilfe, die eben dann gegründet wurde, um Betroffenen heute eine kleine symbolische Entschädigung zu zahlen. Und das Problem wird bei solchen Entschädigungen ist ja auch, dass schnell der Eindruck entsteht: damit soll die Sache dann aber auch erledigt sein. Und damit das nicht passiert, also dass diese gesellschaftliche Blindheit oder der blinde Fleck, den die Gesellschaft da bei der Betrachtung von behinderten Kindern in Heimen hat, damit dieser blinde Fleck nicht bestehen bleibt, hat die Stiftung sich eine historische Aufarbeitung gewünscht, damit auf der einen Seite auch über die historische Aufarbeitung anerkannt wird, was die Betroffenen erlebt haben, damit nicht im Raum stehen bleibt, das sind Menschen, die irgendwas erzählen, sondern damit man nachweisen kann, auch auf größerer Ebene, was wirklich geschehen ist. Und das zweite, vielleicht sogar noch wichtigere ist über die historische Aufgabe Aufarbeitung die ganzen Verhältnisse ins Gespräch zu bringen. Kurz: Es ging uns weniger darum, Zahlen und repräsentative Zahlen zu präsentieren, als ein Bild zu zeichnen, wie es in den Heimen nach 1949 gewesen ist in Kinderpsychiatrien.

Was weiß man allgemein über die Situation von Heimkindern mit Behinderung nach 45?

Prof. Heiner Fangerau Das eine, und das ist eigentlich durch unser Forschungsprojekt auch noch einmal deutlich belegt worden, ist der eben angesprochene blinde Fleck. Etwas plakativ gesagt hatten Kinder in Ost- und Westdeutschland nach dem Krieg so einen Status: sie hatten angepasst zu sein, sich einzufügen und im besten Fall etwas beizutragen zur Gesellschaft, im schlimmsten Fall nicht zu stören. Und dann gibt es eine große Gruppe von Kindern, die sich dort nicht einfügen. Und diese Kinder sind dann eben in Heime gekommen oder Psychiatrien. Der institutionelle Hintergrund, den man weiß, ist, dass diese Heimlandschaft und auch die psychiatrische Landschaft vor allem in Ost und West durch großen Mangel gekennzeichnet war. Man muss sich vorstellen, dass nach diesem Krieg das Gebäude waren, die zum Teil Kriegsschäden hatten, zum Teil renoviert waren und in die auch nicht investiert wurde. Hinzu kam, dass es oft Heime und Einrichtungen waren, die ehemalige große Einrichtungen außerhalb der Städte sind und dann greifen, nicht immer, aber oft und dann greifen so diese Gedankenwelt und die institutionelle Welt ineinander. Die Kinder waren so ein bisschen aus den Augen, aus dem Sinn. Und dieser Mangel schreibt sich fort. Es gibt große Schlafsäle mit vielen Betten, das, wie man sich das vorstellt und von Bildern kennt. Diese Kinder sind auch nicht je nach Förderbedarf untergebracht, sondern alle zusammen. Es gibt vor allem einen Mangel im baulichen Bereich und im personellen Bereich. Und dieser Mangel, der schreibt sich sehr, sehr lange fort. Erst in den 60er Jahren fängt überhaupt eine Aufmerksamkeit an, dass man hier vielleicht reformieren muss. Und in Westdeutschland kommt es erst in den 70ern langsam zu Reformen. Ich habe jetzt von den Rahmenbedingungen gesprochen. Das nächste war das, was die Kinder selber erlebt haben. Und da finden wir neben der durch die Rahmenbedingungen geschaffenen, man nennt das strukturelle Gewalt, also das nicht von Menschen ausgeübt wird, sondern durch die ganzen Rahmenbedingungen, finden wir sehr viele Gewalterfahrungen. Und diese Gewalterfahrungen sind psychischer Art. Dazu gehören Demütigungen, Verletzen der Intimsphäre, Demütigung von anderen Kindern. Zum Beispiel wenn man in die Hose gemacht hatte, dass man dann mit der nassen Hose im Zimmer stehen musste. Alle anderen Kinder sehen das oder man musste in dem Bett weiterschlafen. Dazu gehört Isolierung. Die Kinder sind oft isoliert worden, eingesperrt oder angebunden. Anbinden nicht nur mit Seilen und Schnüren, sondern, da komme ich jetzt auf auch Medikamente, Schlafmedikamente, Verordnung von Schlafmitteln, beispielsweise bei Heimweh finden wir in den Akten. Das sind alles Beispiele für neben der psychischen Gewalt, einer Gewaltform, die wir medizinische Gewalt genannt haben. Das ist etwas in einem Schnittbereich und auch missverständlich. Das ist auch kritisiert worden, dass wir das medizinische Gewalt nennen. Was wir zum Ausdruck bringen wollten, ist, dass hier ein Bereich, der eigentlich auf Heilmittel setzt, eingesetzt wurde, um die Kinder zu normalisieren oder sogar zu disziplinieren. Gelegentlich finden wir in den Akten Hinweise, dass das medizinische Personal auf einmal Disziplinierungsaufgaben übernimmt. Und dann haben wir pädagogische Gewalt. Da sehen Sie aber den ganzen Bereich, was soll das sein, ähnlich kritisch wie medizinische Gewalt, aber eben Gewalt in der Erziehung. Und dazu gehört neben all der psychischen Gewalt auch körperliche Gewalt. Und da finden wir alles, was Sie sich vorstellen können in den Akten. Also die Einrichtungen sind da sehr unterschiedlich. Wir haben eine Einrichtung dabei, da sind wir erstaunt, wie explizit Gewaltschilderungen in Bewohnerinnen und Bewohnerakten zu finden sind, auch in drastischer Sprache. Wir haben dagegen andere Einrichtungen, die Gewalt so verbrämen, dass so versteckt ist, dass es in den Bewohnerinnen und Bewohnerakten nicht unmittelbar erkennbar ist. Und da muss man verschiedene Quellen zusammentragen, nämlich Akten der Institutionen, Akten der Bewohnerinnen und Bewohner und Zeitzeugenbefragungen. Wenn zum Beispiel die Rede ist, sinngemäß „der Junge braucht eine starke Hand, so wie es Gott verlangt“ oder so etwas oder eine „starke göttliche Führung“, dann klingt das ja erst mal unproblematisch. Wenn man das aber dann mit Zeitzeugenbefragungen abgleicht, auch von dort tätigen Personen, dann kommt man dahinter, dass das eigentlich ein Code ist dafür, dass das Kind irgendeine Form von körperlicher Gewalt erfahren hat. Oder die Isolierung von Kindern. Die können dann mitunter verzeichnet sein als „das Kind wurde an den Ort der Stille gebracht“. Und dann haben wir Bauakten und in denen finden wir dann, dass ein isoliertes Zimmer vorgesehen ist und wie das aussehen soll. Und so kann man verschiedene Bausteine zusammensetzen, die aus Zeitzeuginnen und Zeitzeugenbefragungen, Institutionenakten, Bewohnerinnenakten oder auch Akten von Aufsicht führenden Behörden zusammengesetzt sind.

Also man guckt mit einer historischen Sicht von heute drauf. In der Zeit ist es natürlich anders betrachtet worden. Gab es da auch da schon dementsprechend auch dann das Bewusstsein, dass es Gewalt ist oder was haben Sie rausgefunden, wie das letztendlich aus der damaligen Sicht von dem Personal gesehen wurde?

Prof. Heiner Fangerau Zur Einordnung haben wir genau das gemacht. Es ist, wie Sie sagen, immer schwierig, rückwirkend Vorstellungen von Moral, von Recht auf vergangene Verhältnisse anzuwenden. In diesem Bereich ist es jetzt in unserer Lesart auch, wie wir Quellen der Zeit, also nicht nur aus den Einrichtungen, sondern Zeitungen, andere Berichte, pädagogische Bücher und Ähnliches lesen. Auch die Rechtsverhältnisse, so das internationale Recht, wenn wir das so ansehen, ist das schon in der Zeit übermäßige Gewalt gewesen gegen die Kinder, sowohl strukturell als auch von Menschen ausgeübt individuell. Es gibt beispielsweise die Idee, dass Kinder zu schützen sind und dass Kinder gewaltfrei aufwachsen sollen, ja schon seit der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert. Auch dass die Idee im Raum ist, Kinderrechte zu artikulieren, auch das ist im Raum. Und auch wenn der Begriff Kindeswohl nicht fällt, ist doch das Kindeswohl immer ein Orientierungsmuster, das wir aus den Diskursen um Erziehung von Kinder, Unterbringung von Kindern und schon aus dieser Spannung, warum man Kinder vielleicht auch aus Familien herausnimmt, wenn sie eben noch Eltern haben und in solchen Heimen aufgenommen werden -auch daran sieht man, dass die Orientierung am Kindeswohl existiert. Die Aussage, dass Gewalt gegen Kinder normal gewesen sei, sei es körperliche Gewalt, würden wir so nicht stehen lassen, weil auch das deutsche Strafrecht schon zu der Zeit Gewalt im Erziehungskontext in dem Bereich der Körperverletzung setzt. Ich will das rechtlich gar nicht bewerten, aber dass es diese Debatte gibt, zeigt uns, dass diese Gewalt eben nicht normal war. Heute normal, damit meine ich, nicht heute dann abgetan werden kann mit „das war eben so“. Es heißt nicht, dass es in der Zeit in Ordnung gewesen wäre. Wir finden etwas ähnliches mit der medizinischen Gewalt. Wenn es zum Beispiel Kritik daran gibt, dass man Kindern Medikamente gibt, von Angehörigen oder auch sogar von tätigen Personen, wenn die Anstaltsleitungen dann doch eingreifen und sagen, dass Kinder nicht mehr für den medizinischen Unterricht von Studenten einfach, ohne gefragt zu werden eingesetzt werden können, oder wenn eine Einrichtungsleitung sagt: Wir müssen diese Medikamentenversuche, die stattgefunden haben, mit manchen Kindern zurückfahren, weil nicht immer klar erkennbar ist, dass das zum Wohl der Kinder ist. Dass es diese Debatten gibt, das zeigt uns eben, dass man aus der Zeit heraus dieses Leid und Unrecht auch als Leid und Unrecht erkennen kann, das die Kinder erfahren haben. „Das war damals so“, kann auch oft getriggert sein, eben durch die tatsächlich geschilderten Mangelverhältnisse und mangelnde Ausbildung. Man kann sich vorstellen, dass es eine hoch belastende Tätigkeit ist, wenn eine Person für sehr viele schwerbehinderte Kinder zuständig ist und dass diese Person sich dann bemüht, Disziplin dort einzuführen. Jetzt kann man den Spieß aber auch umdrehen. Der Umstand, dass es Einrichtungen gibt, in denen Personen sich bemüht haben, solche Situationen nicht in Gewalt münden zu lassen, zeigt uns ja, dass das auch möglich war. Und auch das konterkariert die Idee von „es sei normal gewesen“. Wir sind deshalb immer davon ausgegangen in unserer Studie, dass Unrecht alles ist, was dem Kindeswohl zuwider lief. Das haben wir als Unrecht und Unrechtserfarung genommen. Das ist der eine Teil. Wir finden in den Akten wenige Fälle, in denen es zeitliche Zusammenhänge zwischen beispielsweise einer medizinischen Maßnahme und dann tatsächlich auch schlimmen Folgen für die Kinder gekommen ist, ohne dass wir eine Kausalkette feststellen können. Hieraus jetzt einen juristischen Prozess zu konstruieren, fällt uns sehr, sehr schwer. Wir wissen allerdings, dass bei den Anlauf -und Beratungsstellen Fälle eingegangen sind, die klarer sind als das, was wir finden. Und die sind auch angezeigt worden. Einige wenige, aber es sind Anzeigen erfolgt.

Hat man denn aus den Akten herausgefunden, wer über diese Maßnahmen bestimmt, der Vormund oder der Heimleiter, der dann gesagt hat, wir machen das jetzt mal?

Prof. Heiner Fangerau Also das ist ein interessanter Komplex. Wir haben für den Landschaftsverband Rheinland beispielsweise mal genauer geguckt, wie die Aufsicht erfolgt ist über die Heime. Kurzes Fazit ist, dass eben diese Aufsicht nicht hinguckt. Ganz so einfach ist es nicht, aber dass wir die Gewalt, körperliche Vor-Ort-Erziehungsmaßnahmen, das wurde vor Ort entschieden durch die Erziehungspersonen bei medizinischen Anordnungen, wie zum Beispiel Schlafkuren oder Röntgenabbildungen des Gehirns. Das ist ein bisschen aufwendiger, das heißt Pneumoenzephaltiis . Das war auch damals das einzige Verfahren, was es gab, hatte also einen medizinischen Sinn. Solche Anordnungen trafen Ärztinnen und Ärzte vor Ort und hier wird es dann spannend. Dieser medizinische Sinn, den muss man eben auch in dieser Zeit noch mal untersuchen. Wenn ein Kind beispielsweise eine plötzliche Veränderung zeigte, die mit einer Hirnveränderung hätte zu tun haben können, dann so eine Untersuchung zu machen, ist ganz anders zu bewerten, als, wie wir es auch finden, so eine Untersuchung immer wieder zu wiederholen oder sogar einem Kind damit zu drohen, dass sie gemacht wird. Das sind dann alles Entscheidungen vor Ort. Neben diesem medizinisch pädagogisch therapeutischen Komplex gibt es noch den Komplex der Medikamentenstudien. Sowohl für solche Untersuchungen als auch für solche Medikamentenstudien war eine Einwilligung notwendig der Vormunde. Diese Einwilligung ist nicht immer dokumentiert, aber sie ist gelegentlich dokumentiert. Wir können also nicht hundertprozentig sagen, bei den nicht dokumentierten Fällen, ob es nicht doch eine Einwilligung gab. Nur die Einwilligung waren oft sehr global. Also „ich stimme allen medizinischen Maßnahmen zu“ oder so etwas. Diese Einwilligung ist auch aus der Epoche heraus schon interessant. Wer, wenn man da in alte Bücher zum Arztrecht guckt, aus den 50er Jahren, dann steht dort zum Beispiel auch schon explizit drin, dass es eine Rechtsmeinung ist, dass man Versuche mit Kindern überhaupt nicht machen darf, weil das selbst bei Zustimmung des Vaters, heißt es dann in diesen Büchern, ja eigentlich ein Vertrag zulasten Dritter wäre. Das heute rechtlich bewerten kann ich nicht, weil ich kein Jurist bin. Was ich aber sagen kann, ist, dass wir finden, dass es diese Debatte um die Rechtmäßigkeit gibt.

Vielen Dank für diese Einbettung. Wie sieht es denn aus, wenn ehemalige Heimkinder dann diese Geschichte versuchen aufzuarbeiten oder zu recherchieren? Haben die eigentlich Akteneinsicht?

Prof. Heiner Fangerau Die Menschen, die betroffen sind, haben das Recht, ihre Akten einzusehen in der Einrichtung, in der sie waren, wenn sie noch vorhanden sind. Der Zustand der Archive der Einrichtung ist sehr, sehr unterschiedlich. Auch in unserer kleinen Studie haben wir alles gefunden, von einem wohl organisierten historischen Archiv bis hin zu dem berühmten Keller, in dem die Akten einfach gestapelt werden. Da kann ich einen ganz, ganz konkreten Tipp geben Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat eine Internetseite aufgesetzt, wo sich Betroffene informieren können, welche Recherche Schritte man eigentlich machen kann, um an seine eigene Geschichte zu kommen.

Das Thema kann insofern ja auch an Bedeutung für die Betroffenen selber verlieren, weil sie schlicht und ergreifend einfach auch daran versterben. Hat sich dann dieses Thema, auch diese Wahrnehmung in der Öffentlichkeit? Anerkennung von Neid dreht, dass im Grunde aus dem Blickwinkel, weil einfach keiner mehr nachfragt. Die Betroffenen oder die Zeitzeugen selber, die sind dann einfach alt.

Prof. Heiner Fangerau Die Gefahr ist da wie immer bei Geschichte, dass, wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben, diese Geschichte nicht tradiert, nicht weitergegeben wird und eigentlich diese lange vergessene oder vernachlässigte, aus dem Blick geratene Geschichte wieder vergessen wird. Ein Sinn dieser Aufarbeitungsstudie war, genau über eine Studie dem Vergessen entgegen zu arbeiten, die Erinnerung an diese Geschehnisse wachzuhalten, auch indem wir eben da eine Publikation vorlegen, die dann erhalten bleibt. Damit ist es aber nicht getan, weil so ein Buch kann man ins Regal stellen und dann ist das auch erledigt. Sondern es wäre eigentlich das Beste, wenn die Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Einrichtungen selbst wach gehalten werden und sich immer wieder erinnert wird. Also eine Erinnerungskultur entwickelt wird, die sich mit Leid und Unrecht der Kinder in Heimen beschäftigt. Warum? Das Ganze ist ja nicht nur eine Geschichte, sondern es fordert uns alle ständig und jeden Tag auf, auf das Kindeswohl gerade auch solcher Kinder, die wenig Fürsprecher haben, zu achten. Das heißt, die Geschichte hilft, eine Kultur des Hinsehens zu etablieren. Der Begriff ist ja nicht von mir, den gibt es ja im sexuellen Kindesmissbrauch vor allem. Und ich finde, der passt hier aber auch sehr gut, weil das ist wirklich eines der Kernergebnisse unserer Analyse und anderer Analysen auch, sobald Leute anfangen hinzusehen, sobald Menschen anfangen, sich um andere Menschen zu kümmern, gelingt es, dieses Leid und Unrecht gar nicht erst oder zumindest einzudämmen. Und der Sinn wäre eben nicht, das Buch ins Regal zu stellen, die Menschen, die gestorben sind, zu beerdigen und das Thema zu den Akten zu legen, sondern genau diese Erinnerungen in Einrichtungen immer wieder zu erzählen, wach zu halten und vielleicht sogar, es ist unser großer Wunsch, den wir eigentlich haben mit unserer Studie, der natürlich in gewisser Weise auch eine Utopie ist, aber dass man anstoßen kann, dass es neben so einer Überblicksstudie, wie wir sie jetzt gemacht haben über 17 Einrichtungen, in den vielen, vielen, vielen Einrichtungen, die es gibt, lokale Projekte gibt, im besten Fall mit Betroffenenbeteiligung, weil dann arbeitet man ja mit der Geschichte daran, Leid und Unrecht nicht wieder entstehen zu lassen in dieser Form.

Herr Fangerau, könnten Sie vielleicht doch noch mal zusammenfassen, gibt es offene Forschungsfragen? Sind vielleicht auch grundsätzliche Forschungsfragen offen geblieben?

Prof. Heiner Fangerau Also irgendetwas bleibt natürlich immer offen. Aber eines, was offen ist, wäre eine flächendeckende Quantifizierung. Die haben wir eben nicht geleistet und die wollten wir auch nicht leisten. Das war nicht Sinn. Das war unter anderem auch nicht Sinn, weil wir die Befürchtung hatten, wenn wir am Ende einen Zahlenkatalog vorlegen, dann sind alle kurz über die Zahlen erschrocken. Aber das, was die Menschen erlebt haben, verschwindet hinter der Zahl. Da müsste man noch mal ran. Mit unserer Einrichtungsauswahl haben wir sicherlich auch nicht alle Fälle, alle Formen von Behinderungen und  alle Formen von Heim erfasst. Ich glaube, auch da gibt es Bedarf, den man vielleicht dezentral in den Einrichtungen selbst adressieren könnte. Und obwohl wir sehr viele Geschichten von Menschen gesammelt haben, in einem Zeitzeugenportal und in Interviews, glaube ich, dass diese Zeitzeugengeschichten einfach noch viel umfassender gesammelt werden können und auch dokumentiert werden können,

Werden Sie sich weiter mit dieser Thematik befassen?

Prof. Heiner Fangerau  Ja, wir haben damals mit der Stiftung besprochen, dass wir mit den Ergebnissen, die wir jetzt haben, in anderen Forschungsprojekten weiterarbeiten können. Und neben der Frage der Geschichte der Kindheit, der Unterbringung von Kindern befassen wir uns eben auch mit der Geschichte und Entwicklung der Psychiatrie bei Kindern weiter. Alle, die wir beteiligt waren, haben wir weitere andere Forschungsvorhaben.

Herr Professor Fangerau, vielen Dank! Wir fanden das sehr, sehr interessant,

Das war Wirsprechen heute mit Professor Heiner Fangerau von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Und wer Interesse hat, in die Studien, über die wir gesprochen haben, hineinzuschauen, in unseren Shownotes, da haben wir die kostenlose Downloadmöglichkeiten der Studie sowohl in schwerer wie auch in einfacher Sprache verlinkt. Auch der Link zum Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung des Landesarchivs Baden-Württemberg mit Kontakt -und Beratungsmöglichkeiten für Betroffene bei ihren eigenen Recherchen, von denen Prof. Dr. Fangerau gesprochen hat, werden wir dort auch aufführen. Eingangs habe ich schon erwähnt, dass uns das Thema der Aufarbeitung so wichtig ist, dass wir auch in der nächsten Folge uns damit beschäftigen werden. Bis dahin sind wir gespannt auf Ihre Kommentare und hoffen auf Likes und hören uns wieder in zwei Wochen bei Wirsprechen.