Was macht die Pandemie mit der Psyche?
Für das Wir-Magazin 2/2020 „Pandemieperspektiven“ haben wir uns auch mit der Frage beschäftigt, was Lockdowns und Pandemie mit der Psyche machen. Dazu hat Wir-Redakteur Martin Küster Sabine Haller vom Verein Kellerkinder zum Interview getroffen.
So ganz normal ist irgendwie keiner – Interview zu Pandemie und Psyche
Abstandhalten und Kontakt auf Distanz ist für viele Menschen eine seelische Belastung. Der Berliner Selbst-vertretungsverein für Menschen mit seelischer Behinderung, Kellerkinder e. V., ist für Menschen in seelischen Krisen eine wichtige Anlaufstelle. Mit digitalen Unterstützungsangeboten gerade während der Pandemie begleiten die EX-IN- Genesungsbegleiterin Sabine Haller und weitere Vereinsmitglieder Menschen in der Krise.
Frau Haller, Abstand halten ist für das Vermeiden von Ansteckung mit Covid-19 wichtig, aber Isolation macht der Psyche zu schaffen. Welche Erfahrungen haben Menschen mit seelischer Behinderung während der Pandemie gemacht?
Nicht nur für Menschen mit seelischen Hindernissen ist das eine schwierige Zeit. Abstand halten und Isolation sind auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das muss man ganz differenziert betrachten. Soziale und körperliche Distanz ist für alle Menschen anstrengend, insbesondere für Menschen, die alleine leben. Das betrifft nicht nur Menschen, die eine seelische Diagnostik bekommen haben oder die Hindernisse haben, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Darunter gibt es einige, denen diese Verlangsamung unheimlich guttut, weil sie endlich mal ihrem Bedürfnis nach ein bisschen Rückzug und Ruhe besser nachgehen können. In vielen therapeutischen Maßnahmen wird noch wird immer verlangt, irgendetwas zu tun, aktiv zu sein, teilzunehmen, in die Werkstatt zu gehen etc. Dieser Druck ist von diesen Menschen abgefallen. Denen ging es in den ersten sechs Wochen von Corona besser als vorher.
Aber das lässt sich nicht verallgemeinern. Es gibt Menschen, die gewisse Angststörungen in ihrem Leben entwickelt haben, wobei ich das Wort Störung als fachlichen Begriff nicht schön finde. Es sind einfach Verhaltensweisen, um sich zu schützen, wenn Ängste aufkommen. Manchen Menschen hat der Lockdown ganz besonders schwer zu schaffen gemacht. Sie haben sich wirklich komplett vom Rest der Welt abgeschottet, aus Angst, sich zu infizieren, und aus Angst, Menschen anzustecken.
Auch haben sich einige akut unwohl gefühlt und wurden teilweise von Kliniken nicht aufgenommen, weil sie nicht ganz extreme Beschwerden hatten. Für Menschen, für die Tagesstruktur oder Behandlungen weggebrochen sind, ist gleichzeitig auch der ganz wichtige Kontakt zu ihrem Arzt, zu ihren Bezugsbegleitern oder zu ihren Selbsthilfegruppen weg-gefallen. Ganz schlimm waren die Menschen betroffen, die in geschlossenen Einrichtungen untergebracht waren und für Wochen keinen Besuch haben durften.
Hat sich die Nachfrage nach therapeutischen Behandlungen in den letzten Monaten erhöht?
Einen generellen Überblick habe ich nicht über die Situation. Es ist aber wichtig, zu sagen, dass sehr viele Dinge auch pathologisiert werden. Das heißt, Menschen, die vorher noch nie mit diesem gesamten System in Berührung waren und plötzlich durch Corona neue Ängste entwickelt oder neue Beschwerden durch die Vereinsamung bekommen haben und nicht komplett akut behandlungsbedürftig waren, hatten natürlich größere Schwierigkeiten, für sich einen Platz zu finden, wo sie damit hinkönnen. Es sei denn, sie hatten im Vorfeld schon Strukturen und ein Netzwerk, wie Kontakte über Selbsthilfegruppen oder zu Vereinen, wie dem Kellerkinder e. V. Es gab sogenannte Hotlines, aber bis zur Einrichtung dieser Hotlines ist auch Zeit verstrichen. Auf unseren Verein Kellerkinder e. V. bin ich total stolz, weil wir relativ schnell alles auf Telefon und Internet umgestellt haben. Wir waren da recht fix. Auch Videokonferenzen, EUTB-Angebote über Videogespräche haben wir eingeführt.
Was heißt „EUTB“?
EUTB heißt ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Das ist eine Beratungsstelle, die von keinem Leistungserbringer, auch nicht von Krankenkassen, in irgendeiner Form abhängig ist. Sie versucht zu empowern, damit der Mensch für sich die richtigen Hilfsmittel oder das richtige Assistenzangebot herausfinden kann. Empowern heißt, jemanden wieder stark machen.
Gab es mehr Ratsuchende, die ganz gezielt in dieser Zeit beim Kellerkinder e. V. Unterstützung gesucht haben?
Wir haben ein Angebot gemacht, dass Menschen überhaupt mit jemand kommunizieren und sich entlasten können. Das ist aber kein therapeutisches Angebot, sondern es soll entlasten, Freude und Spaß bringen. Es ist ganz wichtig, eine Kommunikationsmöglichkeit in irgendeiner Form zu finden, wenn es einem nicht gut geht. Es gab und gibt noch andere Vereine. Manche haben dann ihr Angebot auch noch ein bisschen ausgebaut. Ich bin deutschlandweit mit ganz vielen Organisationen vernetzt. Dort gab es nicht unbedingt so viel Mehrbedarf. Es gab manchmal anderen Bedarf. Es suchten auch neue Personen Kontakt, die vorher vielleicht nicht Kontakte mit diesen Vereinen hatten, denen aber ihre Gruppen, auch die professionell angeleiteten Gruppen, die Selbsthilfegruppen, weggebrochen sind. Sie haben dann pfiffig das Internet durchforstet auf der Suche, was gibt es im Moment für mich, wo kann ich Kontakt herstellen, wo kann ich einfach mal quatschen, wo kann ich mal über meine Bedürfnisse und meine Ängste sprechen.
Beeinflusst die Pandemie den Erfolg von medikamentengestützten Therapien bei Patientinnen und Patienten?
Ich bin weder Pharmakologin noch Ärztin noch Psychotherapeutin. Zwar habe ich eine Weiterbildung zur EX-IN-Genesungsbegleiterin, mache auch Peer-Beratung und bin im Psychopharmaka-Ausschuss von der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie und im psychopharmaka- kritischen Trialog in Berlin sehr engagiert. Was mir bei Online-Workshops, bei denen sich auch Menschen aus der Pflege beteiligt haben, aufgefallen ist, dass ganz viel mit ruhigstellenden Medikamenten im gerontopsychiatrischen Bereich gearbeitet wurde. Das betrifft wieder diesen Bereich, in dem es wenig Kontaktmöglichkeiten gab, wo Patienten dement sind und sich nicht an die Hygiene- maßnahmen halten können. Aber das ist nur meine Beobachtung von außen. Es gibt die sogenannten S3-Leitlinien, Behandlungskonzepte für Menschen mit seelischen Erkrankungen. Darin wird dazu aufgerufen, mehr Alternativen zur Pharmakotherapie zu nutzen. Hochdosierte Psychopharmaka können in der ganz großen akuten Krise erfolgreich sein. Leider verordnen viele Ärzte diese Krisendosis auf Jahre weiter oder reduzieren nur wenig. Ich bin der Meinung, Erfolg und Psychopharmaka sind schwierige Gefährten. Sinnstiftende Dinge im Leben zu finden, das bringt letztendlich Erfolge. Diese können noch von einer gewissen Dosierung an Medikation begleitet sein.
Worauf sollten Menschen in der Pandemie achten, um Psyche und Seele gesund zu halten und dieser herausfordernden Zeit auch positive Erfahrungen abzugewinnen?
Sicher ist es wichtig, sich nicht zu sehr zu isolieren, sondern Zugang und Kontakt zum sozialen Umfeld aufrecht zu erhalten. Für viele sind sinnstiftende Tätigkeiten wichtig. Das kann z. B. Singen sein, was man im Moment ja auch nur zu Hause darf. Aber dort darf man singen z. B. in der Badewanne. Dann gibt es natürlich auch andere kreative Angebote. Wenn Menschen in irgendeiner Form etwas für ihre seelische Gesundheit tun, und damit meine ich nicht nur die Gruppe der Menschen mit den seelischen Behinderungen, sondern generell die ganze Gesellschaft, wenn sie einfach mal in sich reinhorchen, sich der Kreativität der eigenen Seele hingeben, ist es auch eine Chance. Vieles, was uns im Alltag selbstverständlich erscheint, die Wichtigkeit dieser Dinge, wird uns erst bewusst, wenn sie dann mal kurz weg sind. Für viele war es auch gut, dass sie Zeit zum Nachdenken hatten. Menschen, die vorher noch nie ein seelisches Problem hatten, weil sie als Workaholics einfach keine Zeit dafür hatten, waren plötzlich auf sich zurückgeworfen. Sie mussten sich mit ihrer konkreten Situation auseinandersetzen, z. B. mit der gesamten Familiensituation. Das war für manche belastend. Im Lockdown gab es auch viel mehr Gewalt als sonst in Familien, verursacht von Menschen, die keine Diagnose haben. Einfach mal gucken, wo sind wirklich meine Bedürfnisse, ist mein Leben so, dass meine Existenz irgendwie funktioniert oder füllt es mich auch aus, macht es mich glücklich? Ich sehe die Chance auf eine gute Reflexion über mein eigenes Leben. Auf der anderen Seite sehe ich das Risiko, dadurch auch mal in eine Krise zu geraten. Aber Krisen sind auch nicht immer nur schlecht. Krisen brauchen wir, weil sie uns auch zeigen, dass es nicht rundläuft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview zum Thema Pandemie und Psyche führte Wir-Redakteur Martin Küster.