zur Navigation zum Inhalt
Adina steht mit ihrem Rollstuhl inklusive Zuggerät in den Bergen. Vor ihr stehen zwei Pferde auf der Weide.

Nah an der Natur: Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl

“Raus an die frische Luft!” haben bereits unsere Eltern stets gepredigt und uns vor die Tür gesetzt. Auch Gesundheitsexperten raten zu täglicher Bewegung im Freien. Naturerlebnisse, Wandern im Wald oder in den Bergen, Camping-Ausflüge – der Trend geht immer mehr hin zu Outdoor-Aktivitäten und Urlaub in der Natur. Allerdings stoßen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen auch schnell an Grenzen, wenn es über Stock und Stein gehen soll. Viele Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer reagieren mit Unbehagen darauf, wenn ihre Freunde an den Strand gehen oder sich auf einen Waldspaziergang verabreden. Denn so hilfreich Rollstühle auch im Alltag sein mögen – im Sand oder im Gelände geht es häufig keinen Meter mehr voran. Und so fühlen sich viele Menschen mit Beeinträchtigungen ausgegrenzt, wenn es um Outdoor-Erlebnisse geht. Doch der Markt der Hilfsmittel ist im Umbruch und wir schauen, wie der Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl aussehen kann.

Neue Hilfsmittel für mehr Mobilität

Bis in die Achtziger Jahre hinein waren viele Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer nur mit Standard-Rollstühlen versorgt, die heutzutage hauptsächlich in Krankenhäusern zum Einsatz kommen. Seitdem hat sich viel bewegt: Aktivrollstühle wurden entwickelt, die in den meisten Fällen an die Besitzerinnen und Besitzer angepasst werden. Sie werden – genau wie die modernen Elektro-Rollstühle –  individuell nach den Bedürfnissen des jeweiligen Menschen angefertigt. Das hat bereits dazu geführt, dass Menschen mit Behinderungen aktiver am Alltag teilhaben können. Seitdem sind Menschen im Rollstuhl auch in der Gesellschaft deutlich sichtbarer und gehören in den meisten Städten mittlerweile zum alltäglichen Bild.

Doch schnell wurde deutlich, dass auch Aktivrollstühle ihre Grenzen haben. Besonders in unebenem Terrain sind die meist schmalen Reifen und die kleinen Vorderräder oft überfordert. Am Strand beispielsweise versinken RollstuhlfahrerInnen meist nach einigen Metern und stecken fest. Auf unebenen Wanderwegen im Wald ist Vorankommen ebenfalls fast unmöglich. Wie können Aktivitäten im Freien und der Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl also gelingen?

Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl: Lösung für Strandbesuche

Schon bald tauchten hier die ersten Lösungen auf dem Markt auf: Strandrollstühle mit Ballonreifen. Die können mühelos über weichen Sandstrand geschoben werden und sind sogar schwimmfähig. Gleichzeitig wurden auch Geländerollstühle entwickelt, die teils sogar mit Raupenantrieb ausgestattet sind und motorisiert durch schweres Gelände pflügen können. Dadurch können sich Menschen mit Mobilitätseinschränkungen auch selbständig fortbewegen, was bei einem Strandrollstuhl in der Regel nicht möglich ist. Hier wird ein Helfer benötigt, der den Rollstuhl schiebt, was die Selbstbestimmung wiederum deutlich einschränkt.

Beide Varianten ermöglichen mehr Freiheit, sind allerdings auch mit Nachteilen verbunden:  Zum einen ist die Verfügbarkeit durch den hohen Preis und die eher schwierigen Transportmöglichkeiten eingeschränkt, zum anderen sind sie nur für Menschen mit Behinderungen geeignet, die es schaffen, sich umzusetzen. Ein Manko, dem die Hilfsmittelhersteller bis heute noch keine wirkliche Antwort entgegenzusetzen haben.

Barrierearme Ansätze in der Umgebung vereinfachen den Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl

Daher gab es auch Überlegungen, die Vorbedingungen zu verändern. Wenn der Untergrund für RollstuhlfahrerInnen nicht befahrbar ist, könnte ja auch der Untergrund verändert werden. Auch hier gibt es mehrere Lösungsansätze. Die einfachste Lösung, die gerade in den USA häufig Anwendung findet, sind Strandmatten. Diese Matten werden auf dem Sandabschnitt ausgerollt und ermöglichen so ein Überfahren des Strandes bis ans Wasser. Da aber Sand absackt und auch Wind und Wellen ständig präsent sind, müssen diese Matten ständig neu ausgelegt und der Untergrund immer wieder neu geebnet werden. Es ist also Service-Personal notwendig. Und es gibt noch ein anderes Problem, auf das ich gleich zu sprechen komme.

Adina sitzt mit ihrem Rollstuhl inklusive Zuggerät vor einen See im Wald und blickt in die Ferne.
Auch auf für Rollstühle sonst ungeeigneten Böden kommt man gut voran.

Die zweite Möglichkeit sind Rampen, meist Stege aus Holz, die über den Sand gebaut werden. Diese müssen (wie übrigens auch die Sandmatten) außerhalb der Saison abgebaut werden, denn in den Wintermonaten schwillt beispielsweise selbst das sonst so friedliche Mittelmeer zu ordentlichem Wellengang an und verleibt sich alles ein, was sich auf dem Weg befindet. In vielen Mittelmeer-Regionen werden ab Oktober daher selbst Holzstege abgebaut und ins Winterlager verfrachtet. Das wäre grundsätzlich verschmerzbar, weil wohl kaum jemand im Dezember ins Meer steigen möchte, oft wird aber erst Mitte oder Ende Juni die neue Saison eingeläutet. Wer früher kommt, findet eben keine Infrastruktur vor. Beiden Lösungen gemein ist das Problem, dass die Strände häufig auch überfahren werden. Von Traktoren, die den Strand morgens mit einem Rechen reinigen, ebenso wie von Wasser-Rettungsdiensten, die schnell zur Einsatzstelle gelangen müssen. Solche Faktoren müssen bei der Planung von Strandzugängen mitgedacht werden.

Im Idealfall findet sich eine Kombination aus verschiedenen Hilfsmitteln für verschiedene Zielgruppen, um möglichst vielen Menschen den Zugang zum Wasser zu ermöglichen. In Frankreich beispielsweise sind für zertifizierte Strände Strandrollstühle ebenso ein Muss wie befestigte Wege zum Wasser.

Lösungen für Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl in Wäldern und Bergen

Doch Outdoor besteht natürlich nicht nur aus Stränden. Schon ein sonntäglicher Waldspaziergang ist für viele RollstuhlfahrerInnen keine Selbstverständlichkeit, denn Wurzeln, Steine oder generell unebener Boden sind ebenso problematisch. Schon vor vielen Jahren kam eine erste Lösung für dieses Problem auf den Markt, und wenig erstaunlich wurde diese Lösung in der Schweiz entwickelt. Unser alpines Nachbarland ist nicht nur größtenteils sehr bergig, sondern hat auch eine ganze Reihe an Tüftlerinnen und Tüftlern sowie  Erfinderinnen und Erfindern hervorgebracht. “Verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk” ist eine gebräuchliche Redewendung., Verlässlich ist auch  der SwissTrac, ein sehr geländegängiges motorisiertes Zuggerät, das vor den Rollstuhl gespannt wird und Rollstuhl samt Besitzerin oder Besitzer auch durch unebenes Gelände schleppt. Auch die Rollstühle selbst wurden für genau diesen Einsatzzweck zum Teil stabiler konstruiert. Wenig später erschienen auch die bereits erwähnten Gelände-Rollstühle, wahlweise sogar mit Raupenantrieb, wie sie beispielsweise im Schwarzwald für Touren gemietet werden können. Hier wiederum ist Umsetzen erforderlich.

Elektromobilität befeuert die Innovation

So richtig Bewegung in den Markt ist aber durch die massive Entwicklung der E-Mobilität gekommen. Vor einigen Jahren kamen gleich mehrere Hersteller auf die Idee, die Komponenten für Elektro-Fahrräder auch für Rollstuhl-Zuggeräte zu verwenden. Seitdem gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Zuggeräte für verschiedene Bedarfe auf dem Markt. Auch wir haben vor zwei Jahren, gerade zu Beginn der Pandemie, ein solches Gerät erhalten. Da es viele verschiedene Geräte dieser Art gibt, haben wir mit der Hilfe und Beratung unseres Sanitätshauses zwei Modelle gefunden, die unseren Bedürfnissen entsprechen und haben beide getestet. Das Modell unserer Wahl wurde von einem Schweizer Tüftler und Paralympics-Sportler entwickelt. Auch hier wurden hauptsächlich Komponenten aus E-Bikes verwendet. Es wird einfach mit zwei Klammern an den Rahmen des Rollstuhls angeklemmt und dann aufgehebelt, sodass die Vorderräder keinen Bodenkontakt mehr haben. Das große Vorderrad mit recht grobem Profil ermöglichte uns plötzlich Ausflüge in die Natur, die wir so bislang nie erleben konnten. Über Waldwege entlang an Seen konnten wir plötzlich ganz neue Perspektiven erleben, Fahrradtouren mit Freunden oder meinem Patenkind waren möglich – was auch ein völlig neues Gemeinschaftsgefühl mit sich brachte. Eine Akkuladung reicht locker für über 40 Kilometer Reichweite, was die Ausdauer meiner achtjährigenPatentochter bei weitem übersteigt.

Adina sitzt mit ihrem Rollstuhl an einem See und gönnt sich eine kleine Pause von der Fahrradtour. Neben ihr steht ein Fahrrad.
Das Zuggerät für den Rollstuhl ermöglicht Teilnahmen an Fahrradtouren.

Auch auf unserem letzten Ausflug in die italienische Schweiz an den Lago Maggiore haben wir unseren kleinen Begleiter schätzen gelernt: Ob Kopfsteinpflaster in der historischen Altstadt oder auf einem Bergkamm, das leichte wendige Zuggerät hat uns nie im Stich gelassen und Ausflüge ermöglicht, die wir früher nie unternehmen konnten.

Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Hilfsmittel, die den Wunsch nach mehr Aktivitäten im Freien erleichtern sollen. Sie alle aufzuzählen würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Relevant dabei ist die Erkenntnis, dass sich die Hilfsmittel-Hersteller im Umbruch befinden und ständig an neuen Konzepten und Optimierungen arbeiten.

Sichtbarkeit führt zu mehr Verständnis für Inklusion

Eingangs habe ich bereits erwähnt, dass sich das Bild von Menschen mit Behinderungen gewandelt hat. Bis in die Achtziger Jahre waren sie im alltäglichen Straßenbild nahezu unsichtbar, sie wurden oftmals in Heimen quasi kaserniert und konnten kaum am öffentlichen Leben teilhaben. Mit verbesserten Hilfsmitteln und einer deutlich besseren Versorgung hat sich dieses Bild allmählich etwas verändert, zumindest in Deutschland. Auch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die Deutschland bereits 2009 ratifiziert hat und sich noch immer teils schleppend in der Umsetzung befindet, hat die Rechte von Menschen mit Behinderungen gestärkt. Das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe ist unumstößlich in den Gesetzen verankert. Seit Jahrzehnten führen Aktivistinnen und Aktivisten für Behindertenrechte einen Kampf für mehr Teilhabe und Sichtbarkeit, und konnten in Teilen schon deutliche Fortschritte erzielen, auch wenn das Ziel vollständiger Inklusion noch lange nicht erreicht ist.

Doch wenn Menschen mit Behinderungen im Alltag sichtbar werden und das Straßenbild mitprägen, wenn die gesellschaftliche Vielfalt deutlich abgebildet wird, verändert sich auch die Sichtweise der Bevölkerung. Gerade im Kindesalter ist das deutlich zu beobachten, dass Behinderung als Normalität vorgelebt werden kann und von Kindern auch so akzeptiert wird. Seit beispielsweise Adina mit ihrem Rollstuhl-Zuggerät unterwegs ist, erleben wir oft völlig andere Reaktionen gerade von Kindern. Kinder reagieren auf den Rollstuhl häufig eher mit verschämten Nachfragen bei ihren Eltern, was “die Frau denn hat” – doch kaum ist das Zuggerät involviert, erleben wir sehr häufig neugierige staunende Kinder auf dem Weg, die das Gespann toll finden: “Guck mal Mama, ein Motorrad!” oder “Boah cool, das will ich auch!” sind keine seltenen Reaktionen. Die oft medial und gesellschaftlich geprägte Konnotation des Rollstuhls wird durch etwas Neuartiges, “Cooles” ersetzt. Das Bild wird schlagartig positiv gewandelt, denn Außenstehende erleben Adina selbstbestimmt und aktiv unterwegs, der Freiheitsbegriff überwiegt.

Vom Kindesalter an Vielfalt zeigen und als etwas Positives vermitteln

Mein häufig erwähntes Patenkind ist ein zweites Beispiel: Sie ist acht Jahre alt, lebt bei uns im selben Mehrfamilienhaus, und kennt Adina von Anfang an als Rollstuhlfahrerin. In der Folge geht sie völlig natürlich mit der Tatsache um, dass Adina im Rollstuhl sitzt, hat keinerlei Berührungsängste, erkennt Benachteiligung und Barrieren, weil sie dafür sensibilisiert ist und findet beides “doof”. Dass ihre Grundschule nicht barrierefrei ist, ist ein Thema, das sie schon häufiger erwähnt hat. Und: Sie liebt Rollstuhlfahren.

Wenn wir es schaffen, allen Kindern Vielfalt zu zeigen und als etwas Positives zu vermitteln, dann sind wir dem Ziel von Inklusion ganz nahe. Durch Sichtbarkeit wird Behinderung Alltag und Normalität, und das mitleidige Klischee vom “armen Behinderten, der sein Leben nicht geniessen kann”, löst sich allmählich auf, davon bin ich heute überzeugt.

Und so wünsche ich allen, dass sie die bestmögliche Beratung und Hilfsmittel-Versorgung erhalten, rausgehen und am Leben nach besten Möglichkeiten teilnehmen. Nicht nur als Gruppen, sondern auch als Individuen, die das Leben genießen und zeigen, wie Vielfalt aussehen kann. Alle gemeinsam können wir Berührungsängste abbauen und unseren Forderungen nach Inklusion ein Gesicht geben. Und vielleicht ist ja der nächste Tüftler oder die nächste Tüftlerin, die neue Innovationen für einen Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl entwickeln, gerade acht Jahre alt und besucht die Grundschule.

Über den Autoren

Timo Hermann betreibt gemeinsam mit seiner Frau Adina das 2013 gegründete Reiseblog “Mobilista.eu”. Dort schildern die beiden nicht nur wie der Outdoor-Urlaub mit Rollstuhl gelingt, sondern schildern auch ihre Erlebnisse von Reisen in Europa, aber auch Übersee-Destinationen wie Curacao und Kanada. Adina ist Rollstuhlfahrerin und Head of Design beim SOZIALHELDEN e.V., Timo freiberuflicher Reiseblogger, Fotograf und Berater. Sie suchen sich ständig neue Ziele und skizzieren auf ihrem Blog die Länder, die sie bereisen, die dortigen Menschen, ihre Kultur und vor allem ihre Kulinarik. Und natürlich gibt es einige Details zur Rollstuhlgerechtigkeit der Ziele.