Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Erfahrungen aus Moskau
Als ich am 16. Juni in Berlin-Schönefeld in die Maschine der Aeroflot stieg, lagen sechs ereignisreiche Tage vor mir. Als Teil einer Delegation des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) reiste ich nach Moskau. Dort nahm ich vom 16. bis 21. Juni am 22. Arbeits- und Sozialseminar zwischen Moskau und Berlin teil. Ein Erfahrungsbericht.
Themen des Austauschs in Moskau
Im Zentrum des Seminars standen die Versorgung von Menschen mit Behinderung sowie die Entwicklung unterschiedlicher Angebote für ältere Menschen. Gerade hier erreichte die Stadt Moskau in den letzten Jahren enorme Fortschritte. Dies war auch dringend nötig. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland ist in den letzten Jahren zwar stetig angestiegen. Sie liegt mit etwa 73 Jahren aber immer noch deutlich hinter dem Westen. In Westeuropa beträgt sie ungefähr 80 Jahre. Darüber hinaus ist die Infrastruktur und Gesundheitsversorgung in den ländlichen Regionen nicht so ausgestaltet wie in den Metropolen wie Moskau. Dies hat auch Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der dort lebenden Menschen.
Die Angebote für Menschen mit Behinderung in Moskau
Sehr eindrücklich war für mich der Besuch von zwei Rehabilitationszentren in Moskau. An diesen wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Moskau und Berlin besonders deutlich. Am Montag besichtigten wir das vollständig modernisierte Rehabilitationszentrum „Butowo“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Zentrums hatten im letzten Jahr bei der Fürst Donnersmarck-Stiftung eine Woche hospitiert. Am zweiten Tag fuhren wir in das Zentrum für Rehabilitation und Bildung № 7, das sich etwas außerhalb der Stadt befindet.
Beide Einrichtungen waren sehr gut ausgestattet. Ob Virtual Reality Brillen oder Smartboards, ob Kletterpark oder Sportplatz, ob Keramikwerkstatt oder Tonstudio: Den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden standen während ihrer Aufenthaltszeit zahlreiche Möglichkeiten offen. Auch die medizinische Versorgung sowie therapeutischen Angebote waren vielfältig und reichten bis zur Hunde- und Pferdetherapie.
Gleichzeitig wurden auch andere Herangehensweisen sichtbar, die zur Diskussion und den Austausch einluden. Beispielsweise sind die Aufenthaltszeiten der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden nur wenige Wochen lang. Die Rehabilitation wirkt dadurch eher wie eine Kur, nicht wie eine längere und intensivere Reha. Zudem sind die dezentralen Versorgungsmöglichkeiten außerhalb der Einrichtungen noch nicht auf dem Niveau wie in Deutschland. Allerdings werden in „Butowo“ eine große Zahl an Rehabilitandinnen und Rehabilitanden ambulant behandelt.
Individuelle Nachteilsausgleiche oder Gruppenangebote
Der wohl größte Unterschied zwischen Moskau und Berlin besteht aber wahrscheinlich im konzeptionellen Ansatz der Behindertenhilfe. Während in Deutschland spätestens mit dem BTHG das Individuum mit seinen oder ihren speziellen behinderungsbedingten Bedürfnissen im Mittelpunkt steht, ist die Arbeit in Moskau immer noch sehr auf die Gruppe fokussiert.
Besonders deutlich wurde dies während unseres Besuches der Moskauer Staatlichen Bauman-Universität für Technik. Dort präsentierte Prof. Alexander Stanevskiy sein Angebot für Studierende mit Hörbehinderung. Diese werden von ihm und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Gruppe unterrichtet. Erst nach einem zweijährigen Vorbereitungskurs steigen sie in das normale Studium ein.
In Deutschland ist das Studium für Menschen mit Behinderung dagegen stärker von individuellen Nachteilsausgleichen geprägt. Diese sollen auf die persönliche Lebens- und Studiensituation der Studierenden zugeschnitten sein. An der Baumann-Universität gab es solche Formen der Unterstützung nicht.
„Moskauer Langlebigkeit“: Die Angebote für ältere Menschen
Der zweite Schwerpunkt des Seminars behandelte Angebote für ältere Menschen in Moskau. In diesem Zusammenhang besuchten wir die Agentur „Meine Karriere“. Diese widmet sich der Arbeitsvermittlung von Menschen in benachteiligenden Lebenssituationen. Das sind alleinerziehende Frauen, Eltern kinderreicher Familien, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen.
Vor allem informierten wir uns jedoch im Rahmen des III. Forums für soziale Innovationen der Regionen der Russischen Föderation. Das war eine erstaunliche Großveranstaltung, an der insgesamt etwa 30.000 Menschen teilnahmen. Auch hier wurden die unterschiedlichen Ansätze in Russland und Deutschland sehr deutlich.
In Moskau existieren zahlreiche kostenlose Angebote für Rentnerinnen und Rentner, während die eigentliche Rente deutlich niedriger ist als in Deutschland. Das heißt, dass die kostenfreien Angebote ein Teil des sozialen Sicherungssystems sind. Ein Angebot ist beispielsweise das Programm „Moskauer Langlebigkeit“. In dessen Rahmen werden kostenlos Kurse und Sportangebote für ältere Menschen organisiert.
Vom Wert des Austauschs: Moskau – Berlin
Es gäbe noch mehr zu berichten über andere Herangehensweisen, bauliche Unterschiede, kulturelle Besonderheiten, über gemeinsame Abende und über die faszinierende Stadt Moskau mit ihren zahlreichen Sehenswürdigkeiten. Es bleibt aber auch die Frage, welchen Mehrwert die Reise für jedes einzelne Delegationsmitglied hat und wieso sich das LAGeSo bereits seit Jahren für den Austausch zwischen Berlin und Moskau einsetzt und das unabhängig von allen politischen Entwicklungen? Kurz gesagt: Wozu der Aufwand?
Die Antwort auf diese Frage fällt zumindest mir leicht. Die Beschäftigung mit anderen Herangehensweisen und Ansätzen im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik helfen, die eigene Perspektive zu schärfen. Der Widerspruch ist notwendig, um die eigenen Standpunkte besser zu verstehen; er kann aber auch dazu führen, die eigenen Lösungen kritisch zu reflektieren. Ist vielleicht das zentralisierte Moskauer System, in dem alle Rehabilitationseinrichtungen der Stadt unterstehen, schneller und effizienter? Welche Bedeutung hat für uns die Ambulantisierung unserer stationären Einrichtungen? Welche Vorteile bringen angemessene Vorkehrungen, Nachteilsausgleiche und individuelle Unterstützungsmaßnahmen? Warum ist es aus unserer Sicht zeitgemäß und richtig, diese Maßnahmen zu ergreifen und zu fördern? Welche Bedeutung spielt Barrierefreiheit in Moskau oder Berlin? Wie kann sie am besten umgesetzt werden? Mit welcher Haltung begegnen wir Menschen mit Behinderung – und was sagt dies über unser Sozial- und Gesundheitssystem aus?
Das 22. Arbeits- und Sozialseminar zwischen Moskau und Berlin ermöglichte somit vor allem eines: Den eigenen Horizont zu erweitern und sich gegenseitig kennenzulernen. Denn auch das ist ein wichtiger Aspekt der Reise: Man begegnet Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. Dieser Austausch und diese Begegnungen können dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, neue Sichtweisen kennenzulernen und damit Schritt für Schritt die Beziehungen zwischen beiden Ländern zu verbessern.
Als ich am 21. Juni wieder in das Flugzeug der Aeroflot stieg, lagen sechs anregende, vielfältige, und anstrengende Tage hinter mir, an die ich mich noch lange erinnern werde.
Sebastian Weinert
Hintergrund
Berlin und Moskau verbindet nicht nur eine gemeinsame Geschichte. Auch in der Gegenwart sind die beiden Hauptstädte mit eng miteinander verknüpft. Schon im November 1990 unterzeichneten die beiden Städte eine Gemeinsame Erklärung. Am 28. August 1991 schlossen sie ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit ab. Dies ist die Grundlage für eine Kooperation auf unterschiedlichen politischen Feldern. Auch im Bereich Arbeit und Soziales besteht seit mehr als zehn Jahren ein reger Austausch. Dieser wird vom LAGeSo organisiert.
Ein zentraler Bestandteil dieses Austausches sind Fachseminare. Sie finden zwei Mal im Jahr jeweils abwechselnd in Berlin und Moskau statt. Vom 16. bis 21. Juni wurde in Moskau das 22. Arbeits- und Sozialseminar durchgeführt. Insgesamt sechs Delegierte nahmen an dieser Reise teil. Darunter befand sich auch Sebastian Weinert als Vertreter der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Für mittendrin berichtet er von seinen Erfahrungen. Den offiziellen Seminarbericht findet ihr auf der Webseite des LAGeSo.