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EIne Schwimmerin beim Training

„Das gibt dir diesen Kick, um weiterzumachen.“ Kirsten Bruhn im WIR-Interview

Anlässlich der Paralympics 2020 in Tokio haben wir ins Archiv des WIR-Magazins geschaut und Artikel herausgesucht, für die wir mit ehemaligen oder noch immer aktiven Paralympics-Teilnehmerinnen und Teilnehmern gesprochen haben. Heute in Teil 2 erscheint unser Interview mit der mehrfachen Paralympics-Siegerin, Welt- und Europameisterin im Schwimmen Kirsten Bruhn aus dem Jahr 2014.

Interview aus dem Sommer 2014 für das Wir-Magazin

„Gold – Du kannst mehr als Du denkst“ ist ein großer Kinoerfolg, ja sogar der erfolgreichste deutsche Dokumentarfilm gewesen. Was glauben Sie, was die Menschen so zahlreich ins Kino gelockt hat?

Kirsten Bruhn: Ehrlich gesagt, für einen Dokumentarfilm würde ich normalerweise nicht ins Kino gehen, und der Titel „Gold – Du kannst mehr als Du denkst“, klingt erst mal arrogant, weil er mit dem Gold auch die Medaillen nennt, was ja gar nicht gewollt ist. Das versteht man erst, wenn man den Film gesehen hat. Ich denke, dass die Menschen wegen Mundpropaganda reingegangen sind, oder aber wegen der verschiedenen Protagonisten und deren bewegenden Geschichten.

Du kannst mehr als Du denkst: eine Aufforderung, der sich fast jeder von uns stellt. Hinter Ihren Erfolgen liegt ein oft steiniger Weg. Was hat Sie motiviert durchzuhalten?

In vielen Situationen in unserem Leben, ob privat oder beruflich, haben wir schwierige Phasen, wo wir die Dinge erst mal auf den Tisch legen und betrachten müssen. Wenn du dann den Wert erkennt, dann weiß du, du musst durch dieses Tal und danach fühlst du dich supergenial, wenn es überwunden ist. Das macht dich wieder stark und gibt dir diesen Kick, den du brauchst, um weiterzumachen. Das ist für mich der Moment, den ich nach dem Training habe. Wenn ich weiß, ich habe es gut gemacht, auch wenn es wehgetan hat. Ich fühle mich einfach wohl, wenn ich diese zwei bis drei Hürden überwunden habe.

Das Ergebnis ist gut, wenn man sich gut vorbereitet und gut trainiert hat. Aber auch im Leistungssport gibt es für den Erfolg noch weitere Faktoren. Welche Rolle spielen die Aspekte Selbst- und Fremdbestimmung im Leistungssport für Menschen mit Behinderung?

Eine ganz große. Das beobachte ich auch bei ganz vielen anderen Athleten. Ich höre sehr oft von Trainern, dass ich eine von ganz wenigen bin, die diesen Energiemodus und den Ehrgeiz hat, genau zu wissen, was man will, und genau das zu machen, um dahin zu kommen, wohin man will. Es gibt aber genug Athleten, die Zuckerbrot und Peitsche brauchen. Es waren immer der Spaßfaktor und die besser werdenden Leistungen, die bei mir zum Ehrgeiz geführt haben, bessere Zeiten zu schwimmen. Ich wusste immer, das will ich, das tut mir gut. Wenn ich aber immer jemanden bräuchte, der mich ins Wasser tritt, wäre dieser Spaßfaktor weg. Es gibt genug Athleten, die während der Trainingseinheit angeschrien werden und sich nur dadurch weiter motivieren können. Ich könnte das weder als Athlet noch als Trainer aushalten.

Kirsten Bruhn von hinten am Beckenrand

Teamgedanke oder eher Konkurrenz – wie erleben Sie das im Profisport? Gibt es Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Athleten?

Es gibt natürlich Unterschiede: Im paralympischen Sport starten wir bei EM, WM und den Paralympics in den jeweiligen Startklassen. Was den Teamgeist und die Konkurrenz anbelangt, gibt es dann im Wettkampf keine Unterschiede zu den nichtbehinderten Athleten. Jeder will sein Bestes geben und siegen. Das macht ja den Kämpfer und Topathleten aus!

Man kann vielleicht noch sagen, dass im paralympischen Sport die Athleten auf eine gewisse Art auch verbissen sind, aber auch sehr wohl wissen, dass es neben dem Sport noch andere schöne und wichtige Dinge im Leben gibt. Durch das vorangegangene Schicksal, in Form von Krankheit oder Unfall, ist man vielleicht ein wenig sensibler und vorsichtiger mit sich und seinem Leben. Manchmal kommt es einem dadurch auch familiärer oder bodenständiger vor. Das ist aber meine eigene Einschätzung und Erfahrung.

Woran kann das liegen? Ist der Behindertensport familiärer?

Wenn man ein Mensch mit einem Handicap ist, ist man mehr auf die Hilfe anderer angewiesen, als z. B. vor seinem Unfall oder seiner Krankheit. Aus meiner Perspektive kann ich das so sagen. Man wird ein wenig nachdenklicher und sensibler für bestimmte Dinge. Es ist längst nicht alles so selbstverständlich, wie es mal war. Dessen ist man sich nach einem solchen Schicksal eher bewusst.

Durch Ihre sportlichen Erfolge und auch durch den Film sind Sie zu einer Art sportlichen Inklusionsbotschafterin geworden. Ist Sport das Beispiel für gelingende Inklusion?

Das kann der Sport auf jeden Fall sein. Wir trainieren hier im Sportforum durchaus inklusiv, was leider unter Athleten noch eher selten ist. Wenn man sein Training hinter sich hat, ist es toll zu erfahren, was der andere denkt und fühlt. Wenn z. B. die nichtbehinderten Athleten rumjammern, weil sie sich bei der Wende im Training den Zeh gestoßen haben, und das dann reflektieren: Eigentlich könnten sie froh sein, etwas zu fühlen, denn ich spüre so etwas nicht. Diese Wahrnehmungen sind wichtig und gut. Der behinderte Schwimmer kann das als Bestätigung für sich sehen und wird dadurch auch motiviert, und dem nichtbehinderten Schwimmer wird bewusst, dass er vielleicht nicht immer ganz so schnell jammern muss.

Sie arbeiten als Referentin auch mit Managern, die sich als vertrauensbildende Maßnahme ins Wasser fallen lassen müssen. Was lernen Ihre Seminarteilnehmer, was jedes Kind aus seinem Seepferdchenkurs kennt? Was erleben Sie für Reaktionen?

Zum einen erlebe ich deren völlige Freude und ihr Entsetzen zu gleichen Teilen. Sie realisieren, dass sie so verkrampft und angespannt sind, dass sie gar nicht loslassen können. Dann kommt bei einigen auch Traurigkeit auf, wenn ihnen bewusst wird, dass sie etwas verlernt haben und auch mal etwas abgeben müssen, ganz besonders im emotionalen Bereich. Das ist sehr nachhaltig. Ich habe von vielen das Feedback bekommen, dass sie über Monate, teilweise über Jahre hinweg an diesen Moment dachten. Einige erzählen mir dann von Familienangehörigen, die behindert sind, oder dass sie selber mal schwer krank waren. Manche sprechen in meinem Seminar überhaupt zum ersten Mal darüber. Das erschreckt sie dann selber, dass sie über diese Ängste vorher noch mit keinem gesprochen haben.

Kirsten Bruhn nach dem Training in der OSP Zentrale Sportforum Berlin-Hohenschönhausen, 2014

Nach der Europameisterschaft 2014 beenden Sie Ihre sportliche Karriere. Seit April 2012 sind Sie Mitarbeiterin des Unfallkrankenhauses Berlin in der Funktion einer Botschafterin. Werden Sie diese Aufgabe nach der EM intensivieren?

Ja, das ist der Plan. Anhand meiner Erfahrungen zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, eine gute medizinisch professionelle Versorgung zu haben, generell und vor allem im akuten Bereich. Gerade die Erstversorgung mit der folgenden stationären Behandlung sind für Genesung und Wiederherstellung der physischen und psychischen Funktion absolute Grundvoraussetzung. Auch die dann folgende Rehabilitation (sowohl ambulant wie stationär), die dann im besten Falle die Wiedereingliederung in den Beruf und das Leben bedeuten. Dabei spielt der Sport eine große und wichtige Rolle. Zudem möchte ich darauf aufmerksam machen, wie enorm wichtig Unfallversicherungen sind. Diese Details bekommen meistens erst Aufmerksamkeit und Gehör, wenn es zu spät ist. So war es auch bei mir. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) ist ein stiller und so immens wichtiger Begleiter, dass man auch hier gerne mal sensibilisieren darf.

Ich hatte vor 23 Jahren nicht so viele Möglichkeiten, wie man sie heute hat. Mein Weg, mit mir und der Situation wieder klar zu kommen, war zu lang und zu schwerfällig. Das möchte ich den heute Betroffenen ersparen und leichter machen.

In dieser Ausgabe der WIR geht es um Lieblingsorte. Haben Sie hier in Berlin einen Lieblingsort gefunden oder verraten Sie uns einen in Neumünster?

In Schleswig-Holstein ist das Haus meiner Eltern mein Lieblingsort. Er bedeutet mir Kindheit und alles, was mich ausmacht. Und hier in Berlin ist unsere Wohnung mein Rückzugsort.

Frau Bruhn, wir drücken Ihnen die Daumen für die EM und danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview oben erschien erstmals im WIR-Magazin in der Ausgabe 1/2014. Das Magazin könnt ihr hier als PDF herunterladen. Kirsten Bruhn hat außerdem für mittendrin an unserem Format „Drei Fragen an…“ mitgemacht.

Kirsten Bruhn bei den Paralympics 2020 in Tokio

Insgesamt 11 paralympische Medaillen holte die Leistungsschwimmerin und eine der bekanntesten und erfolgreichsten Aktiven im deutschen Behindertensport, darunter dreimal Paralympisches Gold. Auch 2021 ist sie in Tokio vor Ort wird für die ARD die Schwimmwettkämpfe kommentieren.

Alle weiteren Texte zu den Paralympics findet ihr hier.