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Marianne Buggenhagen bei einer Siegerehrung im Jahr 1990

Jeder ist ein kleines Vorbild. Im Gespräch mit Marianne Buggenhagen

Anlässlich der Paralympics 2020 in Tokio haben wir ins Archiv des WIR-Magazins geschaut und Artikel herausgesucht, für die wir mit ehemaligen oder noch immer aktiven Paralympics-Teilnehmerinnen und Teilnehmern gesprochen haben. Heute in Teil 3 erscheint unser Interview Marianne Buggenhagen. Als wahres Multitalent hat sie in zahlreichen Disziplinen Titel als Paralympicsiegerin, Welt- und Europameisterin gesammelt. Das Interview stammt aus dem WIR-Magazin 1/2005

Der Artikel über Marianne Buggenhage aus dem Jahr 2005

Europameisterin,Weltmeisterin, Paralympicssiegerin. In ihrer sportlichen Laufbahn hat Marianne Buggenhagen einiges an Edelmetall sammeln können, und stetig gesellen sich weitere Trophäen zu ihrer Sammlung. Neben zahlreichen Ehrungen konnte sie drei Bundespräsidenten die Hand schütteln und von ihnen das „Silberne Lorbeerblatt“ empfangen. Die 51-jährige gelernte Krankenschwester fing früh an, sportlich aktiv zu sein. Ihre großen Erfolge hatte sie jedoch, nachdem Operationen an Bandscheiben und mehrere Entzündungen in der Wirbelsäule bei ihr zu einer Behinderung führten. Seit 1976 sitzt Marianne Buggenhagen mit einer kompletten Querschnittslähmung ständig im Rollstuhl. Im Sport fand sie damals einen aktiven Ausweg aus ihrer persönlichen Krise: „Nach meiner Behinderung habe ich 1977 mit dem Rehabilitationssport angefangen. Natürlich nicht um Weltmeisterin zu werden, sondern wirklich um meinen Alltag besser zu bewältigen. Ich habe dann aber relativ schnell mitbekommen, dass ich im Sport auch etwas erreichen könnte.“

Marianne Buggenhagen in Aktion

Anfänge und internationaler Durchbruch

An ihre Anfänge erinnert sie sich noch genau: „Ich sah eine Rollstuhlbasketballgruppe spielen. Ich saß erst relativ kurz im Rollstuhl und ich hätte ein riesiges „A“ für „Anfänger“ auf dem Rücken haben müssen, also wirklich. Ich konnte mich in dem Stuhl nicht bewegen, die konnten beim Fahren sogar noch den Ball abspielen. Und ich fand das fantastisch! Also habe ich mich hingesetzt und mir das angesehen. Das wollte ich auch!“ Bis 1990 sollte ihr dieser Wille 130 nationale DDR-Meistertitel bescheren und die Teilnahme an so genannten „ISI- Cups“ (d. h. Intersport-Invalid) ermöglichen, bei denen man sich mit anderen sozialistischen Ländern messen konnte.

Nach der Wiedervereinigung avancierte die Ehrenbürgerin ihrer Geburtsstadt Ueckermünde dann zur internationalen Vorzeigeathletin und ständigen Medaillenanwärterin. Allein achtmal paralympisches Gold konnte Marianne Buggenha- gen bisher für sich verbuchen. Dazu kommen zahlreiche Medaillen als Welt- oder Europameisterin in ihren Disziplinen. Kugelstoßen, Diskus- und Speerwerfen oder doch lieber Rollstuhlbasketball? Die sportliche Allrounderin kann sich nur schwer entscheiden und wird manchmal eher durch Wettkampfregelwerk ausgebremst als durch mögliche Überanstrengung. Denn „bei den Paralympics zum Beispiel man kann nicht im Wurf und im Basketball starten.“ Einer ihrer größten sportlichen Erfolge fand jedoch nicht in einem Stadion statt, sondern vor einer Kamera in der ARD, neben Michael Schumacher: „Das war die Sportlerwahl 1994. Es war zwar eine Publikumswahl, aber für mich unwahrscheinlich wichtig, weil ich vor Steffi Graf und Franziska von Almsick gewonnen hatte. Es war also integrativ.“

Sport als Rehabilitation

Der integrative Aspekt ihres sportlichen Werdegangs ist Marianne Buggenhagen stets bewusst. Abseits der gesellschaftlichen Anerkennung ist Sport für sie, egal wie leistungsorientiert er betrieben wird, vorrangig immer auch Rehabilitation: „Wenn ich diesen Leistungssport nicht machen würde, dann würde ich heute im Korsett sitzen. Ich habe mir ein Korsett selbst geschaffen, und zwar aus Muskeln. Ich meine, ich sitze jetzt 30 Jahre im Rollstuhl. Aber ich fühle mich wohl, weil ich meinen Alltag vollkommen alleine bewältigen kann. Und ich kann mir die Hose im Rollstuhl anziehen. Ich arbeite als Krankenschwester, das ist eine körperlich anstrengende Arbeit. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass andere, die dreißig Jahre im Rollstuhl sitzen und nichts für sich sportlich tun, alles andere als selbständig sind. Dabei kann jeder mit Bewegung für sich etwas erreichen, je nach seinen Möglichkeiten.“

Um Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu bewegen, hat die vitale Athletin die Schirmherrschaft für eine „Reha-Tour“ übernommen. Mit 50 weiteren behinderten und nicht-behinderten Sportlern ist sie dabei bundesweit in Kranken- häusern und Reha-Kliniken unterwegs, um Menschen mit schweren Unfall- oder Krankheitsfolgen und daraus resultierten körperlichen Behinderungen Mut zu machen und einen positiven Weg in eine persönliche Normalität zu zeigen. Rehabilitations- und Behindertensport sind wirksame Mittel, um körperlich wie seelisch positive Veränderungen herbeizuführen. Das gilt bei körperlichen Behinderungen wie bei vielen anderen Erkrankungen.

Marianne Buggenhagens Projekt „Reha-Tour“

„Ich muss einfach sagen, wenn ich gewusst hätte, was das Leben so für mich noch bereit hält, was machbar ist mit einer Behinderung und aus dem Rollstuhl heraus, ich hätte mich am Anfang nicht so schwer getan. Ich denke darum, dass diese „Reha-Tour“ eine unwahrscheinlich gute Sache ist, um Menschen mit Behinderungen und den frisch Verunfallten Mut zu geben und ihnen zu zeigen, ‚Mensch, das ist doch nicht das Ende! Das kann ein Anfang sein. Guck mal, was ich erreicht habe und was machbar ist.‘

Es ist nicht so, dass man ihnen Angst machen muss und jeder so hohe Erwartungen an sich hat, aber ich erlebe es ja bei mir auf Station auch. Ich werde gefordert und vielen Patienten mache ich Mut: ‚Mensch Sie können das!‘ – und schon arbeiten die dann ganz anders. Man ist auch so ein kleines Vorbild. Ich denke, dass es unwahrscheinlich wichtig ist, gerade in dieser Reha-Phase, aufzuzeigen, was man überhaupt noch kann. Auch um zu zeigen, man muss an sich arbeiten, um etwas zu erreichen.“

Thomas Golka / Sean Bussenius

Mehr über Marianne Buggenhagen

Der Artikel über Marianne Buggenhagen erschien erstmals in der WIR 1/2005. Das Magazin könnt ihr hier als PDF herunterladen. 2017 war sie außerdem gemeinsam mit ihrem Ehemann bei unserem Jour fixe zum Thema „In Bewegung verbunden“. Den Hörbericht zum Talk findet ihr in unserer Hörbar.

Alle weiteren Texte zu den Paralympics findet ihr hier.