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Im Bild sind stapelweise Archivkisten zu sehen.

Inklusive Geschichte. Ein Archivworkshop

Anlässlich des „Internationalen Tages der Archive“ veröffentlichen wir auf unserem Blog einen Beitrag über die Frage, wie das Schreiben einer inklusiven Geschichte durch Archive unterstützt werden kann. Wir blicken dabei auf einen Workshop aus dem Jahr 2019 zurück.

Archive gehören nahezu definitionsgemäß nicht zu den barrierefreien Orten. Denn der notwendige Schutz der Archivalien vor Umwelteinflüssen oder unautorisierten Zugriffen bedingt eine Aufbewahrung in speziell gesicherten und mit diversen Nutzungseinschränkungen versehenen Räumen. Das bedeutet also die Errichtung von Barrieren. Gleichzeitig besteht der Anspruch, dass die Benutzung des Archivguts für die Auswertung zu rechtlichen, wissenschaftlichen und persönlichen Zwecken unter Beachtung der Vorgaben des jeweiligen Archivs jeder Person zusteht. Diese Nutzungsbedingungen schließen Menschen mit Behinderung zwar dezidiert ein. Doch endet der Zugang zum Archivgut für diesen Personenkreis manchmal bereits an der Tür. Zumindest dann, wenn der Eingang zum Archiv nicht barrierefrei gestaltet ist.

Inklusive Geschichte schreiben

Obgleich es sich bei der barrierefreien Gestaltung von Archivräumen derzeit allenfalls noch um ein Nischenthema handelt, existieren erste Ansätze für dessen adäquate Umsetzung.[1] Nahezu völlig ausgeblendet sind bislang Kernthemen wie Inklusion und Teilhabe an der Auswertung von Archivgut zum Beispiel in Hinblick auf die geschichtswissenschaftliche Forschung. Denn entsprechend der Forderung der Behindertenbewegung „Nichts über uns, ohne uns“[2] und auf der Grundlage der Forderung nach umfassender Teilhabe, wie sie in der UN-Behindertenkonvention festgeschrieben ist, geht es auch darum, Menschen mit Behinderung an der Erarbeitung und Vermittlung ihrer eigenen Geschichte zu beteiligen. Dies umfasst Fragen danach, wie Menschen mit Behinderung ungeachtet einer akademischen Ausbildung zum möglichst selbstständigen Arbeiten und Forschen im Archiv ermächtigt werden können . Das sind Fragen, die etwa im Bereich der Disability Studies oder der Teilhabeforschung ebenfalls gestellt werden. Die Ausräumung dieses Desiderats birgt zugleich aber die Chance, Inklusion im Archiv praktisch zu erproben.

Ein Workshop aus dem Jahr 2019

Wie schreibt man inklusiv Geschichte?
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops

Die Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST) hat hierzu im Februar 2019 zu einem Archivworkshop eingeladen. Darin werden Klientinnen und Klienten, Rehabilitandinnen und Rehabilitanden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Einrichtungen der Stiftung die Möglichkeit gegeben, das Stiftungsarchiv unter fachkundiger Begleitung zu erkunden.[3] Der Workshop zielte darauf, die archivalische Praxis und das historische Arbeiten im Archiv bekannter zu machen. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde in den barrierefrei zugänglichen Räumen des Archivs der FDST zunächst ein Überblick über die Bestände gegeben und die Tektonik des Archivs erläutert. Danach standen Dokumente im Zentrum, welche über die 1916 erfolgte Gründung und die Entwicklung der Stiftung in den Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Auskunft geben. Neben inhaltlichen Fragen wurde der Erhaltungszustand der Archivalien und die Erschließung der Bestände erläutert.

Hatte dieser erste Teil des Workshops noch einen stark referierenden Charakter, so wurde im zweiten Teil anhand von zwei ausgewählten Themengebieten der Versuch unternommen, die Anwesenden zum selbständigen Blättern in den Dokumenten anzuregen. Im Zentrum stand zum einen das Thema „Reisen mit Behinderung“ und zum anderen das Thema „Ambulantisierung von Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung“.

1950er Jahre

Schon früh wurden von der FDST Reisen für Menschen mit Behinderung angeboten.[4] Die ersten Reisen führten Mitte der 1950er Jahre unter dem Motto „Fahrt des guten Willens“ von Berlin in das nordrhein-westfälische Oerlinghausen im Teutoburger Wald. Schon bei der ersten Fahrt wurden mehr als 100 Personen in Reisebussen und per Flugzeug nach Westdeutschland gebracht. Über die Organisation und den Verlauf der Reisen informieren umfangreiche Aktenbestände sowie von den damals teilnehmenden Klientinnen und Klienten selbst angefertigte Fotoalben. Neben diesen ersten Reisen stießen bei den Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmern jedoch vornehmlich die später durch die FDST durchgeführten Fernreisen, beispielsweise nach Russland, Thailand und in die USA, auf Interesse, da einige der anwesenden Personen selbst daran teilgenommen hatten. Entlang der ausgewählten Bestände – vor allem Beiträge über die Reisen in der seit nunmehr 65 Jahren erscheinenden Zeitschrift WIR, dem Magazin der Fürst Donnersmarck-Stiftung – kam es zu einem lebhaften Erinnerungsaustausch unter den Anwesenden.

1970er Jahre

Dasselbe traf auch auf die „Ambulantisierung von Wohnangeboten“ zu. Dieses Thema befasst sich mit der Entwicklung von Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung und der zunehmenden Verselbständigung und Individualisierung von Lebensformen, die gleichfalls als Folge der Forderung nach der Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu betrachten sind.[5]

Dominierten bis in die 1970er Jahre noch die Unterbringung von Menschen mit Behinderung in stationären Wohnheimen, setzte seitdem auch unter dem Einfluss der von der Psychiatrie- und Behindertenbewegung selbst forcierten Heimkritik eine Diversifizierung von Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung ein. Es kam zur Gründung erster Wohngemeinschaften und Wohnprojekte, bei denen die Klientinnen und Klienten zusehends selbständigere Lebensformen ausprobieren und trainieren konnten. Heute betreibt die FDST ganz unterschiedliche Wohnformen, die ein möglichst selbstständiges Leben mit Behinderung ermöglichen. Da sich diese „Ambulantisierung des Wohnens“ erst in den vergangenen Jahrzehnten ereignete, konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops noch gut an den langsamen Übergang des stationären Wohnens innerhalb der FDST in dezentralere und flexiblere Wohnformen erinnern. In dem an die Akteneinsicht anschließenden Gespräch wurden die Zusammenhänge zwischen der zunehmenden Autonomisierung der Wohnformen seit den 1970er Jahren, den Veränderungen der sozialpolitischen Rahmenbedingungen und der Arbeitsweise der FDST diskutiert.

Fazit: Ist inklusive Geschichte möglich?

Insgesamt muss der ambitionierte Anspruch des Workshops, Klientinnen und Klienten der verschiedenen Einrichtungen der FDST für ihre eigene Geschichte zu interessieren und sie an deren Herstellung zu beteiligen, als ein erster Schritt betrachtet werden. Weitere Angebote werden dem in Zukunft folgen, um auf diesem Weg zu neuen Narrativen zu gelangen, welche die Geschichte von Menschen mit Behinderung ganz allgemein und der Fürst Donnersmarck-Stiftung im speziellen aus der Sicht der betroffenen Personen perspektiviert.

Dominik Erdmann

Weitere Informationen zu inklusiver Geschichte finden Sie beispielsweise auf dem englischsprachigen Portal „Public Disability History„. Mehr Geschichten aus unserem Archiv haben wir unter der Rubrik „Archivstück“ gebündelt.


[1] Vgl.: Ulrike Gilhaus, Peter Worm: Das barrierefreie Archiv – Chancen, Möglichkeiten, Grenzen. In: Archivpflege inWestfalen- Lippe 86, 2017, S. 2-12. Vgl. auch: Öffentlichkeitsarbeit im Archiv – natürlich barrierefrei! Zum 100-jährigen Jubiläum der Fürst Donnersmarck-Stiftung. In: Archivar 2017, S. 296-299.

[2] Gisela Hermes: Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm 2006.

[3] Vgl.: Dominik Erdmann: Wir machen Geschichte! Die Archivwerkstatt der Fürst Donnersmarck-Stiftung. In: WIR – Magazin der Fürst Donnersmarck-Stiftung 2, 2018, S. 73.

[4] Vgl. hierzu: Sebastian Weinert: 100 Jahre Fürst Donnersmarck-Stiftung 1916-2016, Berlin 2016. S. 92 ff.

[5] Ebd. S. 141-148.