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Raul Krauthausen diskutiert mit Jens Spahn über das GKV-IPReG

GKV-IPReG. Selbstbestimmung unter Vorbehalt

Die außerklinische Intensivpflege ermöglicht schwerkranken und beatmeten Menschen eine voll umfassende, medizinisch-pflegerische Versorgung zu Hause. Ein neues Gesetz aus dem Gesundheitsministerium stellt die gesamte außerklinische Intensivpflege auf die Probe. Der Grundsatz ambulant vor stationär wird plötzlich bei Menschen mit Dauerbeatmung infrage gestellt. Ein Debattenbeitrag zum GKV-IPReG von Laura Mench.

Vom RISG zum GKV-IPReG – der Wolf im Schafspelz

Im August 2019, mitten im Sommerloch, als niemand damit gerechnet hat, lädt das Bundesgesundheitsministerium einen Referentenentwurf auf seiner Webseite hoch, den niemand so recht glauben mag. Das „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz“ (RISG). Ein Gesetzentwurf, der sich auf betrügerische Einzelfälle in der außerklinischen Intensivpflege stützt, eine ganze Branche des Betruges verdächtigt und diese somit vollständig abschaffen möchte. Kurz zusammengefasst enthielt der Referentenentwurf umfassende Änderungen im fünften Sozialgesetzbuch SGB V. Diese bedeuten, dass Einrichtungen in der außerklinischen Intensivpflege (Pflegedienste und selbstorganisierte Pflegemodelle (Arbeitgebermodell)) abgeschafft werden würden. Alle beatmeten Menschen müssten entwöhnt oder in stationären Pflegeeinrichtungen versorgt werden.

Betroffene, Selbsthilfeorganisationen und Pflegedienste für außerklinische Intensivpflege begannen zusammenzuarbeiten und gemeinsam Protestaktionen gegen die massiven Einschränkungen der Selbstbestimmung von Menschen mit Beatmung zu organisieren. Es verging Aktion für Aktion, Monat für Monat und Änderung für Änderung. Aber zufriedenstellende Verbesserungen gab es nicht. Schnell entstand der Verdacht, dass nicht nur die einzelnen Betrugsfälle, sondern der gesamte Kostenfaktor außerklinische Intensivpflege sowie der Personalmangel die Beweggründe für den drastischen Gesetzentwurf sein könnten.

Ein Mann hält ein Schild mit der Aufschrift "Nein zum IntensivPflegeStärkungs(Wegsperr)Gesetz!!!"
Mehr als 60 Personen mit und ohne Behinderungen nutzten den Tag der offenen Tür im Bundesministerium für Gesundheit, um vor und im Ministerum gegen den Gesetzentwurf „Rehabilitations- und Intensivpflegestärkungsgesetz“ von Jens Spahn zu protestieren.

In einer Nacht und Nebel Aktion verschwand der Referentenentwurf RISG urplötzlich. Einzelne feierten schon innerlich den Sieg für die Selbstbestimmung. Doch wenige Tage später tauchte ein neuer Gesetzentwurf mit dem Namen „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz“ (GKV-IPReG)“ auf. Die Parallelen der Entwürfe waren offensichtlich, der Täuschungsversuch ist nicht gelungen. Auch gegen diesen Gesetzentwurf waren wir auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor und ganz zu Beginn sogar im Gesundheitsministerium. Wir haben getan, was wir konnten, suchten das Gespräch mit der Politik, mit dem Minister Jens Spahn und weiteren Personen aus zuständigen Kreisen. Trotzdem konnten wir den Beschluss des Gesetzes – in seiner Endfassung zum Glück deutlich entschärft – nicht verhindern.

Der 1. Oktober 2020 geht als schwarzer Tag für die Selbstbestimmung von Menschen mit Beatmung und Intensivpflege in die Geschichte ein. Als Tag, an dem ihre Selbstbestimmung infrage gestellt wird.

Alles steht und fällt mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss

Teile des GKV-IPReG sind mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 28. Oktober 2020 sofort in Kraft getreten. Zu beachten ist, dass ich in diesem Beitrag bisher nur die Seite der Beatmungspatienten dargestellt habe, die kritisch auf den Gesetzentwurf bzw. das mittlerweile bestehende Gesetz blicken. Es ist aber tatsächlich nicht alles nur schlecht an dieser Gesetzesänderung. Beim GKV-IPReG handelt sich eigentlich um eine Sammlung mehrerer Änderungen für das fünfte Sozialgesetzbuch. Diese wurden in einer einzigen Gesetzesänderung zusammengefasst. So ist es z.B. für Senioren super, dass geriatrische Rehabilitationsmaßnahmen fortan ohne Überprüfung durch den Medizinischen Dienst (MD), also quasi auf Rezept, durchgeführt werden können.

Was für Senioren super ist, wird für Beatmungspatienten zum Nachteil. Diese müssen jetzt auf den Gemeinsamen Bundeausschuss (G-BA) hoffen. Das ist ein Gremium, das aus Vertretern und Vertreterinnen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Krankenhausgesellschaft und der gesetzlichen Krankenkassen gebildet wird. Betroffene oder Interessenvertreter finden sich dort nicht. Laut Gesetz muss der G-BA bis zum 31. Oktober 2021 Richtlinien für die Umsetzung des GKV-IPReG erarbeiten. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt also fest, nach welchen Kriterien die Krankenkassen entscheiden, ob ein Patient zu Hause Intensivpflege bekommt oder in einem Pflegeheim ziehen muss.

Einschränkungen der individuellen Wahlmöglichkeiten befürchtet

Grundsätzlich hat der Patient laut Gesetz die „höchste Wahlmöglichkeit“. Das würde bedeuten, dass allein der Patient die Macht darüber hat, zu entscheiden, wo er oder sie leben möchte. Durch den Vorbehalt der Qualitätssicherung und die Bewertung der Versorgungsqualität wird diese Wahlmöglichkeit jedoch unter Umständen durch die Kürzung der finanziellen Mittel (falls die Versorgungsqualität nicht den Richtlinien entsprechen sollte) für die häusliche Intensivpflege indirekt untergraben. Dies geschieht dadurch, dass der Medizinische Dienst jährlich die Versorgungsqualität beurteilt und die Krankenkasse mit dem Patienten oder dem versorgenden Träger (Pflegedienst) eine Zielvereinbarung für die Optimierung schließt.

Was passiert, wenn aus verschiedenen Gründen die Zielvereinbarung nicht eingehalten werden kann, ist nicht definiert. In der Sozialhilfe werden bei Nichteinhaltung von Zielvereinbarungen die Gelder für die Versorgung gekürzt, was indirekt dann zu einer Heimunterbringung des Betroffenen führen kann. Mit der Umsetzung dieser Richtlinien könnte also das Konzept der außerklinischen Intensivpflege vernichtet werden. Es wäre für die außerklinische Intensivpflege von großer Bedeutung, dass die Richtlinien so vorgegeben werden, dass sie genauso in der Stadtwohnung umgesetzt werden können wie auf dem Land im Eigenheim.

Beatmung oder nicht Beatmung, das ist jetzt die Frage

Beatmung kann uns alle treffen. Es ist egal, ob eine schwere Diagnose vorliegt oder nicht. Wichtig ist jedoch, dass man sich über den Ernstfall Gedanken macht. Möchte ich im Falle einer schweren, fortschreitenden Erkrankung oder nach einem Unfall invasiv beatmet werden? Im Hinblick darauf, dass es sehr angenehme Formen der Heimbeatmung (egal ob invasiv oder nicht invasiv) gibt, ist die Möglichkeit, trotz Beatmung selbstbestimmt zu leben, nicht fern.

Mit dem Gesetz GKV-IPReG im Rücken ist es jedoch umso wichtiger, dass man nicht nur technische Möglichkeiten betrachtet, sondern auch die gesetzlichen Regularien und deren Umsetzung im Blick behält. Ungeachtet vom Gelingen oder nicht Gelingen dieser ist es unglaublich wichtig, dass Sie sich damit beschäftigen und Ihre Wünsche, z. B. in der Patientenverfügung oder in Gesprächen mit vertrauten Personen und Ärzten, klar formulieren. Solange wir nicht wissen, wie der Gemeinsame Bundesausschuss die Vorgaben umsetzen wird, fällt es noch schwerer, eine Entscheidung zu treffen.

So entscheide ich mich doch vorwiegend dann für ein längeres Leben (z. B. durch Beatmung), wenn ich weiß, dass ich es wie gewohnt selbstbestimmt in meinen eigenen vier Wänden gestalten kann und nicht mit Eintreten des Beatmungsbedarfs in ein Pflegeheim verfrachtet werde, weil meine Wohnung die Vorgaben, die einer häuslichen Intensivversorgung zugrunde liegen, niemals erfüllen wird.

GKV-IPReG: Was wirklich wird, ist Zukunftsmusik

Neben den Ergebnissen, die der Gemeinsame Bundesausschuss Ende Oktober 2021 vorlegen wird, gibt es auch weitere Hoffnungsschimmer. So teilten die Fraktionen der Grünen, der Linken und der FDP direkt nach der Verabschiedung des Gesetzes mit, dass sie eine Verfassungsklage prüfe. Bis dato ließen die Oppositionsfraktionen nichts verlauten, wir dürfen also weiter hoffen… Bitte enttäuscht uns nicht!

Auf jeden Fall wird nun aber eine jährliche Begutachtung des Medizinischen Dienstes (MD) auf Menschen mit Beatmungsbedarf zukommen. Dieser wird jedes Jahr aufs Neue ihr Leben (wozu die pflegerische Versorgung nun mal gehört) überprüfen und einschätzen. Das heißt, einmal im Jahr wird der MD zu einem Termin vorbeikommen und die Versorgungssituation überprüfen. Ist die Versorgung nach Einschätzung des Gutachters oder der Gutachterin nicht gewährleistet, werden Zielvereinbarungen zur Optimierung geschlossen. Können diese nicht eingehalten werden, kann die Versorgung nicht weiter zu Hause stattfinden. Da nicht geregelt ist, was passiert, wenn geschlossene Zielvereinbarungen nicht eingehalten werden können, liegt die Vermutung nahe, dass man sich an der Handhabe aus der Eingliederungshilfe orientiert. In diesem Fall würde dann die Kündigung der häuslichen Intensivversorgung folgen und der Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung unvermeidlich.

Keine vollendeten Tatsachen zulassen

Bis der Gemeinsame Bundesausschuss die Richtlinien veröffentlicht hat, ist es wichtig, dass wir, die direkt von diesem Gesetz betroffen sein werden und sind, darauf achten, dass Krankenkassen und Sachbearbeiter das Gesetz nicht schon verfrüht nach Gutdünken interpretieren und vollendete Tatsachen geschaffen werden. Ist dies doch passiert, darf das nicht einfach akzeptiert werden. Jeder hat das Recht, selbstbestimmt zu leben und niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Deshalb ist es wichtig, in solchen Situationen die Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin in Anspruch zu nehmen, um das eigene Recht durchzusetzen.

Mein abschließender Appell richtet sich jedoch nicht nur an die Betroffenen, sondern auch an alle Pflegefachpersonen. Auch Ihre Selbstbestimmung wird durch GKV-IPReG massiv eingeschränkt. Wenn das Setting der außerklinischen Intensivpflege Ihres Klienten oder Ihrer Klientin eingestellt werden sollte, wird in Ihr Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes eingegriffen. Sie haben sich die 1:1 außerklinische Intensivpflege bewusst ausgesucht, um dort zu arbeiten. Sie möchten nicht von Patient zu Patient hetzen, dabei Ihre eigenen Bedürfnisse vergessen und am Ende unbefriedigt nach Hause gehen, weil Sie wissen, dass Sie nicht allen Bedürfnissen Ihrer Patienten gerecht werden konnten. Deshalb unterstützen Sie doch bitte Ihre Klienten, wenn es darum geht, dass die weitere Gewährung der außerklinischen Intensivpflege durch den Kostenträger eingestellt werden könnte.

Bildnachweis: Anna Spindelndreier | Gesellschaftsbilder.de

Disclaimer: Die Fürst Donnersmarck-Stiftung betreibt mit dem Fachbereich Unterstützung bei der Entwöhnung von Beatmung ein eigenes Angebot der außerklinischen Intensivpflege. Online unter www.wieder-atmen-lernen.de.