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Zwei Hände halten eine offene Schachtel mit Skizzen

Die Wahrnehmerin. Über ein Leben mit Multipler Sklerose

Zum Welt-MS-Tag 2022 blicken wir auf Vera Kellner, Klientin des Ambulant Betreuten Wohnens der Fürst Donnersmarck-Stiftung und visuelle Kommunikatorin. Mit einem einzigartigen Tagebuch skizziert sie ihr Leben mit Mulitpler Sklerose.

Dass sich die Multiple Sklerose (MS), die Krankheit der tausend Gesichter, immer wieder melden würde, war
Vera Kellner schon bei ihrem ersten Schub 2010 bewusst. Trotzdem startete sie, frisch das Abi in der Tasche, erst mal in die Unabhängigkeit. „MS, sei jetzt mal still, ich fange an zu studieren”, beschwor sie ihre Krankheit und zog nach Düsseldorf, von dort nach Hamburg und schließlich nach Berlin – der Liebe wegen und weil sie 2011 an der dortigen Universität der Künste (UdK) einen Studienplatz für visuelle Kommunikation bekommen hatte. Situationen beobachten, Stimmungen wahrnehmen, den Zustand einer Gesellschaft ergründen und mit Hilfe von Bildern, Texten und Fotos visuell zu gestalten, so fasst Vera Kellner das Studium zusammen, das sie mit einer Bachelorarbeit abschloss.

Vera Kellner zeigt die Schachteln mit den Notizen zu ihrem Leben mit Multipler Sklerose.

Als würde meine Wahrnehmung abdriften.

Vera Kellner

Wie ein Feuerwerk fühlte sich der Schub an, mit dem Vera Kellner 2016 auf der Intensivstation der Charité landete. „Mein Gehirn wollte einfach nicht mehr aufhören, sich zu entzünden”, beschrieb sie. Eine Zeit lang lähmten die starken Entzündungen Körper und Geist vollkommen. Es folgten künstliche Ernährung, Beatmung und zunehmend Erblindung. Eine lebensbedrohende und auch traumatische Erfahrung, durch die sich Vera Kellner durchkämpfte. „Am schlimmsten war während des Schubs, ich war völlig weg, alles war taub, ich konnte meinen Körper nicht mehr wahrnehmen, nichts hören, nichts fühlen, nichts”, beschreibt Vera Kellner. Ihr Leben ist nun, Jahre später, komplett anders. Heute lebt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft der Fürst Donnersmarck-Stiftung und bewegt sich im Rollstuhl.

Der Blick nach innen

Es sind auch die Kompetenzen, die sie in ihrem Kunststudium trainiert hat, die Vera Kellner halfen, sich Stück für Stück wieder in ihrem Körper zurechtzufinden. So wie sie früher gesellschaftliche Stimmungen und Entwicklungen visualisierte, so richtet Vera Kellner nun ihren prüfenden Blick nach innen, erspürt ihren Zustand, ihre Fortschritte
und ihre Veränderungen. Das alles hält sie auf unzähligen Zetteln fest. Da ist eine Zeichnung von zwei Körperhälften,
die die körperliche Wahrnehmung vor sechs Jahren als einzelne Fragmente und heute wieder als einen ganzheitlichen Körper, der immer stärker und beweglicher wird, zeigen. Ihre Erblindung: ein gewöhnliches Auge, mit schwarzem Stift gezeichnet, visualisiert, wie sie früher sehen konnte. Ein weiteres Auge, mit vielen Zickzackstrichen regelrecht durchgestrichen, das, was heute ist.

Aber auch der Blick nach außen hilft, ihr verändertes Ich wahrzunehmen. „Ich sah ein Mädchen in der U-Bahn, die mehrmals ihr Lachen für Tiktok aufnahm, bis sie mit dem Lachen zufrieden war, bis es in ihrer Wahrnehmung echt klang”, erzählt Vera Kellner. „Durch meine erlebten MS-Schübe erfuhr ich meinen Körper immer wieder als fremd. Ich fragte mich bei dem Tiktok-Mädchen mit ihrem unechten Lachen, wie wirkt sich das Erleben auf die eigene Identität aus, wenn der eigene Ausdruck willentlich so stark beeinflusst wird bzw. sich so stark verändert?“

Foto von den Bildseiten
Auszüge aus dem Tagebuch

Das ist kein Kunstprojekt

Wie ein visuelles Tagebuch hält Vera Kellner ihre Veränderungen und wie sie diese wahrnimmt fest. Damit sie sich später vielleicht erinnern kann, was sie gefühlt hat und was sie noch konnte oder was noch nicht. Vorschläge von befreundeten Künstlern und Künstlerinnen, daraus ein Kunstprojekt zu machen, lässt sie noch zögern. „Das ist kein Kunstprojekt, ich weiß noch nicht, wohin mich diese Reise, dieses Tagebuch führen wird. Deswegen traue ich mich mich auch gar nicht, von einem Kunstprojekt zu sprechen, weil ich ja einfach nur das dokumentiere, was ich spüre“, sagt sie. Immerhin sortiert sie die Zettelflut thematisch in Pappkästen, eine Idee von ihrem Betreuer Daniel Kupferberg, der selbst auch Künstler ist. Demnächst kommt ein Künstlerkommilitone vorbei, um das Projekt weiter zu denken und zu gestalten.

Ob Kunstprojekt oder nicht, Vera Kellner gibt mit ihrem Tagebuch nicht nur einen intensiven Einblick in ihre persönliche Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Innenleben in den acht Pappschachteln ermöglichen dem oder der Betrachtenden eine einzigartig Erfahrung mit der Frage, die sich viele stellen: Was ist echt in meinem Leben und was vielleicht nur die optimierte Vorstellung davon?

Der Text stammt ursprünglich aus dem WIR-Magazin 2022/2 „Kreative Köpfe – Inklusive Begegnungen mit Kunst“.