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Hände, die zwei Blätter mit Oktopus-Motiv halten

Was bleibt, was sich ändert – Detlef Wendorf – Ein Künstlerporträt

Ein freundlich lächelnder Mann in seinen 50er Jahren begrüßt mich in seiner Wohnung. Sein Name: Detlef Wendorf. Man sieht, dass hier ein Künstler wohnt. Da hängen nicht nur Bilder an der Wand, stehen Skulpturen auf dem Regal, pendeln getöpferte Blumenampeln nach dem Vorbild alt peruanischer Kulturen vor dem Fenster. Es stehen auch professionelle Farbstifte und Pinsel für den nächsten Einsatz bereit. Hier versammelt sich sichtbar und in Schubladen verstaut sein Wirken der vergangenen Jahrzehnte. Das Wissen anderer kreativer Menschen vieler Kulturen und Epochen steht in inspirierenden Büchern zum Nachschlagen bereit.

Zu Besuch bei Detlef Wendorf

Die natürliche Schönheit von Blumen in Vasen und Grünpflanzen ergänzen die Sammlung. Seine Wohnung atmet die Atmosphäre eines schöpferischen und vielseitig interessierten Menschen.

Aktuell arbeitet Detlef Wendorf gerne an der Druckpresse. Sein künstlerisches Schaffen konzentriert sich gerade auf Radierungen und deren Drucke. Mit einem Radiergummi hat das nichts zu tun. Diese Kunstrichtung zum Herstellen von Tiefdrucken wurde vom Lateinischen „radere“ abgeleitet, das mit „kratzen, wegnehmen, entfernen“ auf Deutsch übersetzt werden kann.

Mit feinen Strichen ritzt er geduldig und konzentriert seine Motive und die Signatur DW mit Jahreszahl spiegelverkehrt mit Radiernadeln oder anderen Werkzeugen in Platten aus Kunststoff oder Stahl. Das erfordert an sich schon viel Geschicklichkeit. Mit dem Tremor in der linken, seiner bevorzugten, Hand ist es jedoch nochmal so anstrengend. Mit der Kurbel dreht er schließlich gegen den Widerstand der Platte kraftvoll seine Motive in ein neues Leben als Kunstwerk. Die Darstellung gewinnt durch dieses seitenverkehrte Umkehren ihre gewünschte Ansicht auf dem Papier. Bei dem Druckprozess und dessen Vorbereitungen konnte ich ihm später über die Schultern schauen. Manchmal arbeitet er jedoch auch an einem Projekt zum Upcyceln. So verhilft er beispielsweise benutzten Feuerwerksbatterien zu einem neuen Leben als Stiftehalter.

Leben ist wie Kunst: ein Geheimnis im Wandel

Sein eigenes Leben hat sich Detlef Wendorf ebenfalls neu erschaffen. Erschaffen müssen. Im Jahr 2008 gab es für ihn einen deutlichen Einschnitt. Ein Früher, an das er sich kaum erinnert. Und das Danach. Durch eine Meningitis fiel er ins Koma. Erst viele Tage später wachte er wieder auf. Trotz dieser Rückkehr in den Lebensalltag war die Erinnerung an die „Zeit davor“ nahezu ausgelöscht. Schon die Erinnerung an den „Satz davor“ war ihm schier unmöglich. Sein Kurzzeitgedächtnis hatte massiv gelitten. Er konnte sich sogar nicht mehr merken, was wenige Sekunden zuvor gesagt wurde oder was er gelesen hatte. Besonders das Erledigen von bürokratischen Angelegenheiten war eine kaum zu bewältigende Hürde. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam und all die Briefe dort liegen sah, war das „Stress pur“, wie er sagt. Auch hatte er seine Arbeit verloren, musste seine Steuererklärung machen, sich an die Krankenkasse, Ärztinnen und Ärzte und Behörden für seinen Lebensunterhalt wenden. Und traf kaum auf Verständnis. Weder die Formulare waren für seine Situation geeignet, noch konnten die Mitarbeitenden mit seiner Einschränkung des Erinnerns umgehen. Da half Ihm kein Hinweis, sich an eine andere Stelle zu wenden oder ein anderes Formular auszufüllen. Er konnte es sich schlicht kaum merken oder etwas ausfüllen. Es dauerte Stunden, bis er einen Brief bearbeitet hatte.

„Aber meine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten waren geblieben.“

„Beinahe hätte ich sogar meine Wohnung verloren“, erzählt er mir. „Doch ein Sozialanwalt hat mir geholfen, sie zu behalten.“ Und weiter: „Selbst meine Wohnung war ein Überraschungspaket, jede Schublade, jeder Karton, jeder Film“, sagt er jetzt rückblickend. Nach einer Odyssee hatte er schließlich von einem Neurologen die rettende Information erhalten, dass ihm eine rechtliche Betreuung die behördlichen und bürokratischen Aufgaben abnehmen konnte. Bis es soweit war, hat es zwar noch Zeit gebraucht, doch seitdem geht es ihm besser. Tiefe Depressionen hatten seinen Weg begleitet. „Job weg, Erinnerung weg, Vergangenheit weg, Zukunft weg, Freundin weg – ich kannte mich selbst nicht mehr“, charakterisierte Detlef Wendorf sich selbst heute. „Aber meine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten waren geblieben. Und mein logisches Denken“.

Erleichterung und ein Hoffnungsschimmer strahlen aus ihm heraus. Und die gute Erfahrung, dass ihm wenigstens ein Halt geblieben war: seine Nachbarin. Für sie hat er vor etwa eineinhalb Jahren ein Bild von einer abendlichen Strandlandschaft auf Norderney gemalt, weil ihr die Atmosphäre gefiel. Beim Betrachten des Bildes erzählt er, was ihm beim Malen grundsätzlich wichtig ist: „Die Gesamtkomposition, der Lichteinfall, die Anordnung der einzelnen Elemente. Sie lassen eine Tiefenwirkung entstehen.“

Mittlerweile kann sich Detlef Wendorf wieder ein wenig mehr an sein früheres Leben erinnern. Und er hat eine neue innere Einstellung zu seinem Erinnerungsverlust gewonnen: „Es hat auch etwas Positives. Es hat meiner Kreativität geholfen. Weil alles ausgelöscht war, war mein Kopf frei – von den Einflüssen der Außenwelt befreit.“ Er fügt nachdenklich hinzu: „Meine Kreativität ist anders geworden. Ich kann aber nicht sagen, was wäre, wenn ich keine Meningitis bekommen hätte.“

Früher einmal hatte Detlef Wendorf eine Ausbildung als Porzellanmaler in der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) begonnen. Zwar hatte er sie nicht abgeschlossen, aber sie hat ihm Impulse für weitere Vorhaben gegeben. So ist ihm die Liebe zum Malen von Blüten und Früchten geblieben.

Auf einen Becher hat er beispielsweise Obst-Motive, nach Studien in Aquarell auf Pappe, mit Porzellan-Hobbyfarben gemalt. Im Gegensatz dazu ist der Becher mit der Pfingstrosen-Darstellung spülmaschinengeeignet, da Detlef Wendorf sie mit professionellen Porzellanmalfarben gestaltet hat, die bei sehr hohen Temperaturen gebrannt wurden.

Er hatte zudem mit dem Töpfern begonnen, später in einer Gemeinschaft mit zwei weiteren Künstlern in einem Töpferladen gearbeitet. Das war eine berufliche Station von mehreren, wie etwa auch das Betreiben eines Blumenladens oder das Arbeiten mit Holz, beispielsweise das Bauen von Hochbetten, vor der großen Veränderung.

Nach der Meningitis hat er eine Zeit lang in Wilmersdorf im Kunstwerk blisse des Lwerks, einem Atelier mit öffentlichem Café und Galerie, gearbeitet und dort auch einige Werke ausgestellt. Jetzt arbeitet er zu Hause an seinen Werken und den Vorbereitungen wie etwa Papierschöpfen und wird vom Ambulant Betreuten Wohnen der Fürst Donnersmarck-Stiftung unterstützt.

Neue Sinneswelten erschaffen

Jedes Detail, jeder Strich, jede Farbnuance, jedes Material, jeder einzelne Schritt wirkt sich auf das Ergebnis aus, das Detlef Wendorf zu einem Eigenleben erweckt. Dafür braucht es Geduld, die er gut aufbringen kann. Ein Strich anders gesetzt, ein Material anders gewählt, ein Papierblatt anders aufgelegt – mit jeder Auswahl oder Abweichung bekommt das Ergebnis eine andere Ausprägung. Dadurch eröffnet sich eine andere Welt, die sich mitunter erst bei genauem Hinsehen erschließt. Aber die Offenheit der Sinne ist ohnehin die Voraussetzung, damit sich die Betrachtenden im Innersten berühren lassen. So kann ein Kunstwerk eine übersetzende Funktion von Vorhandenem ausüben, die ein Künstler durch seine Sinne und seinen Stil vermittelt. Das handwerklich geschickte Umsetzen von Gesehenem und Gefühltem führt zum Erschaffen neuer Sinneswelten.

Bei Detlef Wendorf drückt sich Hochachtung vor jeder Einzelheit in der Vorbereitung und an seinen Werken aus. Er wählt unter anderem gerne erotische Darstellungen aus, die er als Radierung oder Gemälde nach Vorbildern gestaltet. Dabei sprechen ihn die „Natura“, die „Körperspannung“, das „Stilvolle“ ebenso an wie bei architektonischen Abbildungen, am Oktopus oder an Blumenmotiven. „Je nachdem, von wo das Licht kommt, wirkt das Bild lebendig. Das ist beim Tulpenbild von der Seite besser zu sehen als in der Frontansicht“, erläutert er. „Ich habe es für einen 3D-Effekt mit Strukturpaste gemalt.“ So entsteht ein Wechselspiel zwischen Licht und Tiefenwirkung. Das Bild verändert sich, je nachdem, ob man frontal darauf schaut, es von der Seite betrachtet oder im Licht bewegt. Plötzlich sieht man eine Tiefe, einen Schatten, ein Lichtspiel. Oder verändert sich der Betrachtende? Weil durch die veränderten Eindrücke innerlich etwas in Bewegung gerät? Überraschende Gefühle oder Erinnerungen aufkommen?

Papier, die verschiedenen Qualitäten und Stärken, ist eine faszinierende Welt für sich. Man kann es kaufen, aber auch selbst fertigen. Beim Herstellen des Papiers entsteht die Beschaffenheit durch die Wahl des zugrundeliegenden Papiermaterials. So kann die Qualität beispielsweise aus hochwertiger Zellulose, aus Altpapier, Baumwolle oder anderen Materialien bestehen, wobei allerdings nicht jedes Papier dafür geeignet ist, wie Detlef Wendorf erzählt. Andere Einflussfaktoren wirken sich auf die Papierstruktur aus, je nachdem, welche Grundlage zum Trocknen gewählt wird, um ihre Gewebestruktur auf das neue Blatt abzugeben, berichtet er mir weiter. Dafür wird das Papiermaterial zerkleinert, dann in Wasser eingeweicht, daraus mit dem Papier-Rahmen geschöpft und anschließend auf Tücher gegeben, um sie so an der Leine zu trocknen.

Ein Kunstwerk entsteht

Und dann demonstriert mir Detlef Wendorf den gesamten Druckprozess einer Radierung. Dafür wählt er die Abbildung eines Engels auf Edelstahl und gutes Büttenpapier aus. Er macht damit deutlich, wie sehr jede einzelne Phase im Entstehungsprozess zählt, jeder Vorbereitungsschritt sich letztendlich auf das Druck-Ergebnis auswirkt. Zur Entscheidung für das Motiv sagt er: „Ich mag dieses Engelbild sehr, weil mir die Herzlichkeit gut gefällt“.

Er beginnt mit dem Vorbereiten der Blattgröße durch Reißen des Papiers mit der Hand. Das Qualitätsmerkmal von Büttenpapier ist, dass es nicht geschnitten wird, erklärt Detlef Wendorf. Dafür knickt er das Blatt und zieht die eine Hälfte an einem Metalllineal entlang. Nun legt er beide Hälften für einige Minuten ins Wasserbad, denn das feuchte Papier nimmt die Farbe beim Drucken besser auf. Anschließend werden die Papierblätter in Tüchern von zu viel Wasser befreit. Währenddessen mischt er sorgfältig den Farbton aus mehreren Farben. Auch das Aufbringen der Farbe ist ein Prozess. Sie wird zunächst auf die Radierplatte aufgetragen und zum späteren Haften auf dem Papier fest in die Rillen eingedrückt. Anschließend wischt Detlef Wendorf die überschüssige Farbe sorgsam ab, denn es soll sich ja lediglich die Farbe aus den Rillen auf das Papier übertragen, nicht von den Flächen.

Im nächsten Schritt platziert er die vorbereitete Radierplatte auf den Boden der Druckpresse, genau darüber schließlich das Auflegen des eingeweichten Papierbogens und darüber das Abdecken mit der Druckdecke aus Filz zum Schutz der Materialien beim Pressvorgang. Wenn der Papierbogen nicht millimetergenau aufgelegt ist, kommt das Bild schief aus der Presse heraus. Detlef Wendorf beginnt nach diesem Vorgang, die Kurbel langsam zu drehen. Zentimeter um Zentimeter. Angestrengt, mit viel Kraft. Denn der zu überwindende Widerstand von Platte und Papier ist groß. Der Druckerschlitten bewegt sich dabei bedächtig von links nach rechts. Und dann kommt der magische Moment, in welchem der Künstler die Decke zurückschlägt und mit seiner Frage vorsichtig das Papier von der Platte löst.

Es ist wie eine Geburt. Ein Kunstwerk ist entstanden. Der Beginn eines Eigenlebens. Denn, soviel Wissen, Planung und Geschicklichkeit auch hineingesteckt wurde – Kunst hat ihr eigenes Geheimnis, welches von den Betrachtenden zu ergründen ist. Vielleicht wird Detlef Wendorf seine Werke zum Entdecken der Magie auch wieder einmal in einer Ausstellung zeigen können?

Text: Karin Mühlenberg, Ambulant Betreutes Wohnen der Fürst Donnersmarck-Stiftung