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Dr. Sebastian Weinert, Anke Köhler und Jürgen Dusel

Demokratie und Inklusion immer zusammendenken

Am Dienstag war der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung 2020. Das haben wir zum Anlass genommen, um uns mit Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, zu unterhalten. Ein Gespräch über den Protesttag, Inklusion und die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise zu unterhalten.

Der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai findet in diesem Jahr zu einem besonderen Zeitpunkt mitten in der Corona-Pandemie statt. Warum ist es gerade jetzt wichtig, für die Belange von Menschen mit Behinderung öffentlich einzutreten?

Jürgen Dusel: Es ist grundsätzlich wichtig, für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen einzutreten. Doch gerade jetzt in der Corona-Krise werden bestehende Problemlagen, die wir in den letzten Jahren immer wieder beschrieben haben und sich beispielsweise auch in meinen Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung widerspiegeln, verstärkt. Beispielsweise führt die Corona-Krise dazu, dass die medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderungen zum Problem wird, dass die fehlende Barrierefreiheit in der Digitalisierung ein Problem ist oder dass die Barrierefreiheit in der allgemeinen Kommunikation vorangetrieben werden muss.

Wir müssen deswegen aufpassen, dass wir die Erfolge der letzten Jahre nicht verlieren, die wir dadurch erzielt haben, dass Menschen mit Behinderungen nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sehr erfolgreich ihre Teilhaberechte eingefordert haben. Deswegen ist es so wichtig, gerade heute am Europäischen Protesttag auf diese Teilhaberechte aufmerksam zu machen.

Inklusion in der Corona-Krise

Ihr Motto lautet „Demokratie braucht Inklusion“: Inwiefern ist dieses Motto gerade in der Corona-Krise von Bedeutung?

Jürgen Dusel: „Demokratie braucht Inklusion“ ist für mich ein ganz wichtiger Satz. Wie schon Ihr von mir sehr geschätzter Kollege, Heribert Prantl, sagte, ist Inklusion das „Betriebssystem“ unserer Demokratie. Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit den gleichen Rechten wie alle anderen auch. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass selbstverständlich auch in der Corona-Krise ihre Teilhaberrechte nicht geopfert werden.

Wir befinden uns ja gerade in einem permanenten Aushandlungs- und Diskussionsprozess zwischen Sicherheit und Freiheit. Das betrifft letztlich auch Menschen mit Behinderungen. Hier zeigt sich, dass das Motto „Demokratie braucht Inklusion“, das letztlich auf unserem Grundgesetz gründet, richtig gewählt ist. Das Grundgesetz ist für den Ernstfall gemacht. In unserem Grundgesetz steht das Recht auf die Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf gleiche Behandlung. Das gilt auch in der aktuellen Situation. Deswegen ist es sehr wichtig, die Demokratie und Inklusion immer zusammenzudenken.

Die „neue Normalität“ für Menschen mit Behinderung

Aktuell ist gerade auch die Teilhabe von den Menschen mit Behinderung, die oftmals zu den Risikogruppen zählen, besonders eingeschränkt. Wie kann aus Ihrer Sicht die vielbeschworene „neue Normalität“ für diese Menschen aussehen?

Jürgen Dusel: Diese „neue Normalität“ muss so gestaltet werden, dass unsere Verpflichtung zur Teilhabe auch den Menschen gewährt wird, die besonders gefährdet sind. Ich spreche lieber von gefährdeten Menschen, weil der Begriff der „Risikogruppe“ fälschlicherweise den Eindruck vermitteln könnte, dass diese Menschen besonders gefährlich seien. Darum geht es ja nicht. Es ist vielmehr so, dass diese Menschen beispielsweise mit bestimmten Vorerkrankungen leben und es für sie deswegen besonders schwierig sein könnte, wenn sie sich mit dem Virus infizieren.

Mir geht es nun darum, dass wir bei den aktuell diskutierten„Exit-Strategien“ die Belange von Menschen mit Behinderungen immer mitdenken. Beispielsweise erleben wir gerade eine Diskussion darüber, dass wir auch in Zukunft mehr aus dem Home-Office arbeiten können sollten. Wenn wir das umsetzen, ist es jedoch entscheidend, bei den neuen Konzepten gerade die Menschen zu berücksichtigen, die auf das Home-Office angewiesen sind – zum Beispiel Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von zu Hause arbeiten müssen und auch wollen. Das Stichwort ist hier „Barrierefreiheit“.

Auch wenn wir über weitere Lockerungen reden, muss klar sein, dass diese eben auch für Menschen mit Behinderungen gelten. Ich bin deswegen sehr froh darüber, dass die Expertenkommission der Leopoldina in ihrem Ad-hoc-Papier deutlich machte, dass es nicht vertretbar ist, Lockerungen nur für weniger gefährdete Menschen auf Kosten anderer zu erlauben. Das sehe ich genauso. Auf der anderen Seite muss auch die besondere Situation von Menschen, die in Einrichtungen leben und schon aufgrund dieser Wohnsituation einer größeren Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind, mitgedacht werden. Dieser Drahtseilakt ist nicht einfach.

Meine Aufgabe in diesem Prozess ist es, immer wieder auf die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen hinzuweisen. Diese müssen auch in der sogenannten „neuen Normalität“ mitgedacht werden.

„Nichts über uns, ohne uns“

Welcher Unterstützung bedarf es dafür?

Jürgen Dusel: Wir müssen zumindest nach dem Grundprinzip „Nichts über uns, ohne uns“ verfahren. Menschen mit Behinderungen müssen die Chance haben, sich an diesem Prozess zu beteiligen: Sich einzumischen, an den Entscheidungen zu partizipieren und laut einzubringen – dafür ist der heutige Tag ja auch da.

Blickt man jetzt auf meine Position, so ist es die Aufgabe des Beauftragten für Menschen mit Behinderungen der Bundesregierung bei allen Verordnungen, bei allen Gesetzen und bei allen wichtigen Vorhaben, die die Situation von Menschen mit Behinderungen berühren könnten, zu beraten. Auf dieser Grundlage werden wir an allen wichtigen Entscheidungsprozessen beteiligt. Ein paar Beispiele:

Für mich ist es ganz wichtig, die sogenannte „Tracing-App“ nicht nur datenschutzkoform sondern natürlich auch barrierefrei zu gestalten. Ein weiteres wichtiges Thema ist die barrierefreie Bereitstellung von Informationen der Bundesregierung, des Bundespresseamtes oder auch des Robert Koch Instituts – also mit Gebärdensprachdolmetschung und Übersetzungen in Leichter Sprache. An diesem Punkten merke ich aber auch, dass unsere Aktivitäten und Initiativen in der Vergangenheit durchaus erfolgreich waren.

Für die Zukunft wird es ganz wichtig sein, die anstehende Entscheidungen so zu treffen, dass sie auch nach der Corona-Krise für Menschen mit Behinderungen nutzbar sind – weil die Menschen ein Recht darauf haben.

Die Rolle des Beauftragten für Menschen mit Behinderung

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Bundesbeauftragter in diesem Zusammenhang?

Jürgen Dusel: Mir ist es wichtig, nochmal zu betonen, dass ich als Bundesbeauftragte darauf hinwirke, dass die UN-Behindertenrechtskonvention und die Teilhaberrechte weiterhin Richtschnur unseres Handelns bleiben. Ich wünsche mir einfach, dass wir die schwierige Situation, in der wir uns aktuell befinden, zumindest dafür nutzen, um positive Entscheidungen zu treffen, sodass es nach der Krise nicht mehr zurück zu einem „Business as Usual“ kommt

Vielen Dank für das Gespräch!

Statements der Berliner Beauftragten für Menschen mit Behinderung

Anlässlich des Europäischen Protesttages haben wir die Berliner Beaufragten für Menschen mit Behinderung ebenfalls um ein kurzes Statement gebeten. Ihre Antworten findet ihr hier.

Das Titelfoto zeigt Jürgen Dusel zusammen mit den WIR-Redakteuren Anke Köhler und Sebastian Weinert bei einem gemeinsamen Foto anlässlich eines Interviews nach 100 Tagen Amtszeit von Jürgen Dusel. Es ist in der Ausgabe 2/2018 des WIR-Magazins erschienen.