Vorbild für Berlin: Das Bremer Behindertenparlament
Das Bremer Behindertenparlament ist Vorbild bei der Gründung eines vergleichbaren Gremiums in Berlin. Dieter Stegmann, 1. Vorsitzender und Präsident des 24. Bremer Behindertenparlaments, und Gerald Wagner, Leiter der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen Bremen (lAGs), haben in der WIR 2019/1 zum 10. Jubiläum der UN-BRK Einblick in die Parlamentsarbeit gegeben.
Interview zum Bremer Behindertenparlament
Herr Stegmann und Herr Wagner, das Bremer Behindertenparlament feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Warum gibt es bei Ihnen eine vergleichsweise lange Tradition im politischen Engagement von Menschen mit Behinderung?
Ein Grund ist, dass behinderte Menschen in Bremen und Bremerhaven damals wie heute der Meinung sind, dass das Parlament genau der richtige Ort ist, an dem behinderte Menschen ihre Anliegen vortragen und diskutieren wollen und sollen. Des Weiteren ist das Parlament in der Realität, in der realen Politik der Ort, an dem auch im Land Bremen landespolitisch alle wesentlichen Entscheidungen getroffen werden. Das Parlament bietet zudem die Chance und Möglichkeit, mit der Politik ins Gespräch zu kommen. Die Erfahrungen der letzten 24 Jahre zeigen, dass dies sehr gut möglich ist, wenngleich festgestellt werden muss, dass die Umsetzung der Forderungen dadurch auch nicht immer beschleunigt wird. Die Herstellung von Öffentlichkeit für die Belange behinderter Menschen ist gleichwohl von unschätzbarem Wert. Behinderte Menschen erleben die Teilnahme am Behindertenparlament oft als Höhepunkt, als Highlight im jeweiligen Jahr und nehmen sehr gern daran teil. Durch die meistenteils vielfach ruhige und besonnene Gestaltung und Durchführung des Behindertenparlaments ist es behinderten Menschen auch zunehmend gelungen, nachhaltig Gehör und Akzeptanz zu finden. Dadurch, dass das Bundesland Bremen vergleichsweise kleinräumig und überschaubar ist, war und ist es hier leichter als anderswo, dass sich Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen vernetzen und zueinander finden konnten. Die gemeinsamen Vorgespräche haben gezeigt, dass die gleichen Interessenlagen zur Lösung bestehender Probleme hilfreich waren, um eine große Dynamik für ihre Umsetzung zu entfalten. Hilfreich war auch, dass wir von Anfang an über verschiedene Wege versucht haben, die Prozesse zu steuern und zu verstärken. Letztendlich war aber die Umsetzung des ersten großen Projektes, Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen, entscheidend dafür, dass diese Dynamik bis heute anhält.
Das Parlament tagt einmal im Jahr. Reicht eine Jahresversammlung aus, um allen Belangen und Interessen die notwendige Unterstützung zu geben?
Nein, es reicht nicht aus. Das Behindertenparlament ist auch nicht das einzige regelmäßige Instrument. Es tagt immer im Winter. Im Frühjahr (anlässlich des Aktionstages am 5. Mai) findet ebenfalls einmal im Jahr eine große Demonstration und Kundgebung gegen Diskriminierung und für Gleichstellung behinderter Menschen in der Bremer Innenstadt statt, der sogenannte Bremer Protesttag. Diesen Protesttag gibt es im Jahr 2019 zum 27. Mal, das Bremer Behindertenparlament wird dann zum 25. Mal tagen. Zwischenzeitig fand früher beides am gleichen Tag statt. Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Themen und Anträge, die im Behindertenparlament besprochen und beschlossen wurden, weiter zu verfolgen. Das ist aber nicht so einfach und erfordert Zeit. Es ist aber eine gute Grundlage für Nachfragen in anderen Gremien. Hier ist es in Bremen zum Beispiel Tradition, dass die Behindertenverbände in der Sozialdeputation Gastrecht haben und gehört werden. Darüber hinaus ist es vor vier Jahren gelungen, einen Landesteilhabebeirat zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Land Bremen zu etablieren. Zudem gibt es im Land Bremen zahlreiche weitere Gremien und Zusammenhänge, in denen behinderte Menschen und ihre Organisationen kontinuierlich Einfluss nehmen.
Behindertenpolitik ist eine politische Querschnittsaufgabe
Beschlüsse des Parlamentes werden auch an die zuständigen Verwaltungen weitergegeben. Wie sieht die Zusammenarbeit aus?
In den mehr als 20 Jahren Protesttag und Behindertenparlament ist ein konstruktives und gutes Miteinander von (Sozial-)Politik und Behindertenverbänden entstanden. Die Kontakte zu den wechselnd zuständigen politisch Verantwortlichen waren und sind gut – sicherlich mal besser, mal nicht ganz so gut, aber grundsätzlich herrscht da reger Austausch. Gleiches gilt für die Sozialpolitiker*innen fast aller Parteien. Zudem ist es uns zunehmend gelungen, deutlich zu machen, dass Behindertenpolitik eine Querschnittsaufgabe der Politik und der Verwaltung ist und nicht nur Sozialpolitik bedeutet.
Welche Themen konnte das Behindertenparlament beeinflussen?
Zum Beispiel ist das Thema barrierefreies Bauen und Wohnen in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Beschlüssen gewesen. Hierzu gab es verschiedene Fortschritte, wie zum Beispiel zusätzliche rollstuhlgerechte Wohnungen in den Neuplanungen für Wohnraum der Wohnungsbaugesellschaft GEWOBA. Bei aktuellen Initiativen für mehr R-Wohnungen (R steht für rollstuhlgerecht, Anm. d. Red.) werden die Belange behinderter Menschen in den Gremien und Planungen berücksichtigt. Ähnlich ist das bei vielen anderen Themen. Am meisten erreicht wurde sicher bei der Herstellung von mehr Barrierefreiheit in Straßenbahnen und Bussen. Hier werden die Behindertenverbände regelmäßig von den Bremer Verkehrsbetrieben und der Bremer Straßenbahn AG hinzugezogen, und die Anregungen der Verbände werden ernst genommen. Das wäre ohne das Behindertenparlament wahrscheinlich anders. Manche Themen erfordern auch noch mehr „Nacharbeit“ – so kann mehr Barrierefreiheit in Arzt- und Behandlungspraxen nicht einfach „staatlich verordnet“ werden, sondern erfordert die Mitwirkung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Da ist es sicher sinnvoll, kontinuierlich Druck auf die KV zu erhöhen.
Herr Stegmann und Herr Wagner, vielen Dank und viel Erfolg für die weiteren Vorhaben des Bremer Behindertenparlaments.