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Briefmarke Rehabilitation in der DDR 1979, gemaltes Bild zu sehen sind Kinder mit Behinderung in der DDR mit Mikroskopen

Behinderung in der DDR – eine digitale Ausstellung

Wie war die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in der DDR? Wie wurde medial über sie berichtet? Wo lagen die Unterschiede zur Bundesrepublik Deutschland?

Zu diesen und weiteren Fragen betreiben Mitarbeitende der Universitäten Kiel und München Grundlagenforschung. 2018 startete das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMFB) geförderte Projekt. Nun konzipierte dazu ein wissenschaftliches Team zusammen mit Menschen mit Behinderung eine digitale Ausstellung. Die Vernissage findet am 2. Februar ab 18 Uhr online statt. Wir sprachen mit Dr. Sebastian Barsch, Professor für Geschichtsdidaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, über das Projekt und die Schwerpunkte der Ausstellung.

Konzept und Hintergrund der Ausstellung zu Menschen mit Behinderung in der DDR

Was hat Sie bewogen diese Ausstellung zu konzipieren?

Sebastian Barsch: Prof. Dr. Gabriele Lingelbach aus Kiel, PD Dr. Elsbeth Bösl von der Uni der Bundeswehr in München und ich sind schon seit Jahren im Bereich Disability History – also Geschichte von Menschen mit Behinderung – unterwegs. Wir kennen uns daher schon länger, haben auf unterschiedlichen Feldern geforscht und fanden die Frage spannend, wie man so ein Thema so aufrollen kann, so dass es nicht nur einen Aufsatz oder ein Buch dazu gibt, das nur eine kleine Fachcommunity erreicht, sondern idealerweise auch Menschen, die es selbst betrifft. Sehr schnell hatten wir dann die Idee, mit dem Institut für inklusive Bildung zusammenzuarbeiten. Das Institut ist der Kieler Uni angegliedert. Es realisiert Bildungsangebote von und mit Menschen mit Behinderung. Als qualifizierte Bildungsfachkräfte unterstützen sie dann Projekte wie unseres.

Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit dem Institut für inklusive Bildung konkret vorstellen?

Sebastian Barsch: Basierend auf dem Grundsatz der Behindertenrechtskonvention „Nicht ohne uns über uns“ haben wir bei der Gestaltung der Website mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung zusammengearbeitet.

Wir haben von vornherein großen Wert auf die Zugänglichkeit gelegt. Die Forschenden lieferten die Inhalte. Die projektbeteiligten Menschen mit Behinderung prüften hinsichtlich der Komplexität der Texte und ob die Inhalte auch für Menschen mit nicht-akademischem Hintergrund nachvollziehbar sind. Der große Praxistext steht noch bevor, aber wir haben bisher schon einiges an positivem Feedback zur Nutzerfreundlichkeit bekommen.

Wie wurde die Ausstellung strukturiert?

Sebastian Barsch: Wir haben sie in drei Themenkomplexe gegliedert. Medien – wie wurden die Menschen mit Behinderung in den Medien dargestellt bzw. inszeniert? Familien mit Kindern mit Behinderung – wie haben sie vor allem ihren Alltag erfahren? Technik – dabei haben wir vor allem ein Augenmerk auf Barrierefreiheit in der Architektur der DDR gelegt. Die digitale Ausstellung an sich ist das vierte Teilprojekt.

Unterschiede zwischen DDR und BRD

Wenn man nicht ganz tief in der Materie ist und sich die Inhalte der Ausstellung ansieht, könnte man denken, dass die meisten Gegebenheiten und Einstellungen zum Thema stark dem westdeutschen stark  Kontext der jeweiligen Zeit ähneln. Was war dennoch anders in der DDR?

Sebastian Barsch: Teilweise gibt es nur in Nuancen Unterschiede. Wenn man beispielsweise die Theoriebildung zur Rehabilitationspädagogik der DDR in den 1960er Jahren betrachtet, gab es dort schon sehr gute und innovative Ansätze, die durchaus vergleichbar mit denen in anderen Ländern waren.

Spannend ist auch, dass das Thema Behinderung in der DDR im Gegensatz zu anderen Lebenssituationen nicht immer so stark politisiert wurde. Es wurde also seltener als Problemfeld diagnostiziert. Wenn man etwa mit dem Umgang mit Menschen mit psychischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten vergleicht – da war das System durchaus restriktiv, Stichwort Werkhöfe.

Wenn man auf die politischen Dokumente der Zeit schaut, findet man oft Aussagen dazu, dass der sozialistische Humanismus viel für die Schwachen leisten und Gleichberechtigung schaffen müsse. Es klingt in vielen Quellen die Utopie durch, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft gar nicht mehr auffallen. Wenn man auf die Realebene guckt, zeigt sich eine Diskrepanz, die mit den ökonomischen Ressourcen zusammenhing. Bis zum Ende der DDR konnten insbesondere für mehrfachbehinderte Menschen keine flächendeckenden Angebote geschaffen werden.

Ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Systemen ist, dass es kaum Interessensverbände gab. In der Bundesrepublik gab es schon seit 1958 die Lebenshilfe, aber auch Körperbehindertenvereinigungen, die für sich selbst gesprochen haben. Diese Verbände hatten und haben natürlich Einfluss auf die Sozialpolitik. Und somit auf die Umsetzung von passenden Angeboten. In der DDR hing eine adäquate Versorgung oft davon ab, wo man wohnte.

Schulsituation von Menschen mit Behinderung in der DDR

Um einen Aspekt herauszugreifen: Wie war die Situation für Kinder im Bereich der Schulbildung?

Sebastian Barsch: In der DDR wurden die Kinder ab den 1960er Jahren durch eine medizinische Kommission einer Diagnostik unterzogen. Je nach Ergebnis konnten sie eine sogenannte Hilfsschule besuchen, galten als nicht förderungsfähiger Pflegefall oder waren sogenannte „nicht schulbildungs- jedoch lebenspraktisch förderungsfähige“ Kinder, d.h. sie gingen in Förderungstagesstätten. Allerdings gab es auch diese Angebote bis zum Ende der DDR nicht flächendeckend.

Im Themenfeld Medien beschreiben Sie, dass in der DDR-Berichterstattung Menschen mit Behinderung durchaus präsent waren und das Ziel war, Diskriminierung entgegen zu wirken. Die Berichte wären aber oft selbst diskriminierend gewesen oder wurden zur Propaganda genutzt. Können Sie mir dazu Beispiele nennen?

Sebastian Barsch: Seit den 1970er Jahren veröffentlichte man eine Reihe von Aufklärungsratgebern und Fernsehsendungen, die den Wert von Menschen mit Behinderung für die Gesellschaft thematisierten. Sie sollten sozusagen volkspädagogisch wirken. Die Aussage war: „Behinderte Menschen sind Teil unserer Gesellschaft, diskriminiert sie nicht.“ Das stand aber in einem gewissen Widerspruch dazu, dass, wie vorhin angeführt, es z.B. für Kinder bezüglich Bildung und Förderung nur sehr begrenzte Möglichkeiten gab. Das System sortierte Menschen relativ starr in Raster ein und verknüpfte damit Entwicklungschancen. Als schulbildungsunfähig diagnostiziert zu werden, schränkte den Weg eines Kindes von vornherein ein.

Im Vergleich zu Westdeutschland bildete die Medienlandschaft nicht die Vielfältigkeit von Perspektiven ab, so dass es in der Öffentlichkeit zu keinen kontroversen Diskussionen zu diesen Themen kam.

Wird Ihr spannendes Projekt noch weitergeführt?

Sebastian Barsch: Ja, wir hoffen, dass wir in die zweite Förderphase gehen können. Das Münchener Team hat u.a. viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gearbeitet. Die Interviews werten wir gerade aus uns treffen eine Auswahl.

Darüber hinaus haben wir natürlich damit zu tun um die Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu gewährleisten, die Interviews zusammenzuschneiden und zu untertiteln. Da steckt noch eine Menge Arbeit drin.

Vielen Dank für das Gespräch!

Vernissage am 2.2.2022

Die Ausstellung ist online dauerhaft zu sehen. Am 02.02.2022 findet von 18 bis 20 Uhr die Ausstellungseröffnung unter folgendem Zoom-Link statt:

https://uni-kiel.zoom.us/j/67105550416?pwd=ekxxUTl6bk5tTWJKcnVCNVRYSTdWUT09

Foto: https://commons.wikimedia.org/, hochgeladen von Nightflyer; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stamps_of_Germany_(DDR)_1979,_MiNr_2431.jpg